Rheinische Post - Xanten and Moers
Wirecard wird der Prozess gemacht
Vor dem Münchner Landgericht hat am Donnerstag die Verhandlung gegen die mutmaßlichen Betrüger hinter dem ehemaligen Dax-Aufsteiger begonnen. Allein die Kurzfassung der Anklageschrift umfasst 89 Seiten.
MÜNCHEN Den Auftakt bildet die Verlesung der umfangreichen Anklageschrift vor der Wirtschaftsstrafkammer am Münchner Landgericht. Der Hauptangeklagte ist Markus Braun, der ehemalige Vorstandsvorsitzende des einst hochgelobten TechUnternehmens aus Aschheim bei München. Zudem müssen sich die einstigen Manager Oliver Bellenhaus, Wirecard-Statthalter in Dubai, und der frühere Finanzvorstand Stephan von Erffa verantworten.
Sie sollen, so formuliert es Staatsanwalt Matthias Bühring, eine „kriminelle Bande“gebildet haben. Die Kurzfassung der Anklageschrift umfasst 89 Seiten, die es in sich haben: Die meisten Geschäfte der im Juni 2020 binnen weniger Tage zusammengebrochenen Firma soll es demnach gar nicht gegeben haben, vor allem jene im Ausland mit einem weitverzweigten Netz von Tochterund Partnerunternehmen. Alles sei ein großer Bluff gewesen, so die Schlussfolgerung.
Beim Unternehmen Wirecard, das 2018 zur Krönung seiner Firmengeschichte in den Deutschen Aktienindex (Dax) aufgenommen worden war, handelt es sich demnach um den größten Fall von Wirtschaftskriminalität in der Geschichte der Bundesrepublik. Als Schäden werden aufgelistet: 3,1 Milliarden Euro geplatzter Bankkredite, 20 Milliarden Euro Verlust bei den Aktionären, unter denen auch viele Privatanleger waren, die etwa für die Rente vorsorgen wollten. Sowie 1,9 Milliarden Euro, die in Singapur verschwanden und von denen bis heute niemand weiß, ob es sie denn jemals wirklich gab. Das Fehlen dieses Geldes führte letztlich dazu, dass die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young dem Unternehmen nicht wie die Jahre zuvor eine korrekte Buchführung bescheinigten. Als Folge rauschte der Börsenkurs in den Keller, Wirecard war pleite.
Gegen halb zehn wird Markus Braun in den Hochsicherheitsgerichtssaal an der Justizvollzugsanstalt Stadelheim geführt. Er trägt einen Rollkragenpulli und ein Jackett, nach zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sieht er gut aus, ist schlank, geradezu drahtig. Freundlich und scheinbar gut gelaunt beantwortet er die Fragen des Vorsitzenden Richters Markus Födisch zur Person. Ob sein gegenwärtiger Wohnsitz weiterhin die Justizvollzugsanstalt Stadelheim sei? „Absolut
richtig“, sagt Braun. Direkt hinter Braun, ihm im Genick, sitzt sein größtes Problem: der Mitangeklagte Bellenhaus, ebenfalls weiter in U-Haft, der als Kronzeuge dient. Bei den Ermittlern soll er umfänglich ausgesagt und viele der Betrugsvorwürfe bestätigt haben.
Braun wie auch Bellenhaus wollen in dem Prozess aussagen. Während Braun sich weiterhin für unschuldig hält, sich sogar als Opfer sieht und die Position vertritt, dass er von den Machenschaften nichts gewusst habe, dürfte Bellenhaus ihn schwer belasten.
Über fünf Stunden hinweg, mit einigen Pausen, liest die Staatsanwaltschaft die Anklage vor. Von verschiedensten Treuhandkonten etwa in Dubai oder auf den Philippinen ist die Rede – „tatsächlich gab es die Geschäfte nicht“, so der Anklagevertreter. Es seien reihenweise „Reports ohne Grundlage“erstellt worden, man habe „unzutreffende Bilder der Lage des Unternehmens weitergegeben“. In den Bilanzen seien „Vermögenswerte, die nicht existierten“, gelistet. Man habe die Verhältnisse „unrichtig abgebildet“. Der Staatsanwalt meint: „90 Prozent des Umsatzes waren tatsächlich nicht vorhanden.“ So geht es weiter und weiter und weiter. Wenn es stimmen sollte, dann war es tatsächlich der große Bluff.
Die Motive der mutmaßlichen Bandenmitglieder seien offensichtlich: Das Unternehmen sollte immer weiter wachsen, die Kurse steigen. So sorgten sie für ihr eigenes Einkommen und für erfolgsabhängige Boni. Zudem sind demnach Geldbeträge in unbekannter Höhe aus der Firma entwendet worden. Der zweite Hauptverdächtige, das Vorstandsmitglied Jan Marsalek, ist nicht in München. Ihm war direkt nach der Pleite die Flucht gelungen, wohl nach Moskau.
Die Anklage ist schließlich verlesen, nun müssen die Vorwürfe auch bewiesen oder aber widerlegt werden. Dafür gibt es Zeit, viel Zeit: Der Prozess ist vorerst bis Ende des Jahres 2023 angesetzt.