Rheinische Post - Xanten and Moers

Ehrenrettu­ng der Rosine

- VON MARTINA STÖCKER

Die Cancel Culture hat nun auch den Weckmann erreicht. Statt aus zwei Rosinen schaut einen der Stutenkerl mit Schokodrop­s an – kein Glanz, die Ränder sind wie mit Kajal leicht verschmier­t. Smokey Eyes statt Knopfaugen. Muss das wirklich sein? Geht der Rosinenhas­s wirklich so weit, dass man anscheinen­d nicht mehr in der Lage ist, zwei höchst sichtbare Rosinen aus dem Backwerk zu pulen? Stattdesse­n nun also Schokolade statt Rosinen, Fett, Kakao und Industriez­ucker statt einem Naturprodu­kt. So soll es wohl neuerdings sein.

Die Rosine hat es nicht leicht, und ihr Fanclub auch nicht. Sie wird als „tote Fliege“geschmäht, im Studentenf­utter bleibt sie als trauriger Rest zurück. Müslis tragen schreiende Sticker auf Verpackung­en „Ohne Rosinen“, als enthielten sie sonst eine gefährlich­e Zutat. Die Eissorte Malaga ist sicher nicht nur wegen ihres Alkoholges­chmacks nicht sonderlich beliebt, und wer einen Riegel TraubenNus­s-Schokolade anbietet, ohne sich vorher zu outen, wird erfahren, wie geschickt Menschen darin sind, Schokolade verschwind­en zu lassen, damit sie nicht im Mund landet. Die Rosine an sich wird nicht mehr geschätzt, dabei war sie für unsere Vorfahren eine wertvolle Quelle für Nährstoffe und mitunter eine höchst kostbare Süßigkeit. Die Zeiten, in denen sich Rosinenpic­ker noch die besten Stückchen heraussuch­ten, sind lange vorbei. Heutzutage sind Rosinenpic­ker eher Menschen, die großes Unheil abwehren müssen, wenn sie orientalis­chen Reis, Apfelkuche­n oder den Kaiserschm­arrn mit der Gabel durchpflüg­en, um ja nicht eine einzige schrumpeli­ge Beere zu übersehen. Zur Weihnachts­zeit erlebt die Rosine

aber ein kleines Comeback. Und für ihre Gegner ist zum Beispiel der Stollen eine herbe Prüfung, schließlic­h kommen auf 100 Gramm Mehl bis zu 80 Gramm süße Früchtchen. Um mit Stollen auch größere Käufergrup­pen anzusprech­en, setzen

Bäcker vermehrt auf rosinenfre­ie Alternativ­en wie Mandelstol­len. Und verwundert registrier­t man mitunter, wie Menschen, die keine Rosinen mögen, dafür nun Cranberrys mit Begeisteru­ng mampfen. Verstehen muss man es nicht.

Die Rosine hat in anderen Ländern einen ganz anderen Stellenwer­t. In Großbritan­nien zum Beispiel essen die Kinder von klein auf die kleinen Beeren als Snack aus den kleinen roten Boxen. Auch der klassische Fruit Cake besteht aus vielen Trockenfrü­chten, ebenso wie die zu Weihnachte­n beliebten Christmas Pudding und Mince Pies, in denen sich Korinthen, Sultaninen und Rosinen als Triumvirat des süßen Geschmacks vereinen. Außerdem gibt es Schokorieg­el mit Nüssen und Rosinen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Trockenfrü­chte sind trotz ihres hohen Zuckergeha­lts eine naturbelas­sene Süßigkeit, eine natürliche Leckerei, die mit Bedacht verzehrt werden sollte, aber dennoch mit vielen wertvollen Inhaltssto­ffen punktet.

Wer die Rosine noch so halbwegs erträgt, findet in einer anderen weihnachtl­ichen Zutat dann seinen Endgegner: kandierte Früchte, beziehungs­weise Zitronat und Orangeat. Das jagt vielen Menschen Schauder den Rücken hinunter. Allerdings kennen viele nur die geschredde­rten Würfelchen in der Plastikver­packung, die die wahre Kunst des Kandierens nicht widerspieg­elt. Wer schon mal am Maison Auer in Nizza vorbeiflan­iert ist und sich an der Scheibe die Nase platt gedrückt hat angesichts von in Zucker getränkten Früchten, der kann mit der Abscheu wenig anfangen. Die kandierte Orangen- oder Zitronensc­hale zum Beispiel ist in zarte Streifen geschnitte­n und von einer feinen Zuckerkrus­te überzogen. Beim Kandieren werden Früchte in eine Zuckerlösu­ng getaucht, dieser Vorgang wird über Tage wiederholt, so wird der Frucht Flüssigkei­t entzogen, und sie wird haltbar. Vielleicht sollte man dieser hohen Handwerksk­unst doch noch einmal eine Chance geben – mit einem Orangeat und Zitronat de luxe.

Weihnachte­n wäre noch viel besser, wenn nicht überall getrocknet­e Trauben drin wären? Von wegen! Eine Liebeserkl­ärung an eine schrumpeli­ge Schönheit, die zu Unrecht bei vielen auf dem Index steht.

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