Rheinische Post - Xanten and Moers
Ehrenrettung der Rosine
Die Cancel Culture hat nun auch den Weckmann erreicht. Statt aus zwei Rosinen schaut einen der Stutenkerl mit Schokodrops an – kein Glanz, die Ränder sind wie mit Kajal leicht verschmiert. Smokey Eyes statt Knopfaugen. Muss das wirklich sein? Geht der Rosinenhass wirklich so weit, dass man anscheinend nicht mehr in der Lage ist, zwei höchst sichtbare Rosinen aus dem Backwerk zu pulen? Stattdessen nun also Schokolade statt Rosinen, Fett, Kakao und Industriezucker statt einem Naturprodukt. So soll es wohl neuerdings sein.
Die Rosine hat es nicht leicht, und ihr Fanclub auch nicht. Sie wird als „tote Fliege“geschmäht, im Studentenfutter bleibt sie als trauriger Rest zurück. Müslis tragen schreiende Sticker auf Verpackungen „Ohne Rosinen“, als enthielten sie sonst eine gefährliche Zutat. Die Eissorte Malaga ist sicher nicht nur wegen ihres Alkoholgeschmacks nicht sonderlich beliebt, und wer einen Riegel TraubenNuss-Schokolade anbietet, ohne sich vorher zu outen, wird erfahren, wie geschickt Menschen darin sind, Schokolade verschwinden zu lassen, damit sie nicht im Mund landet. Die Rosine an sich wird nicht mehr geschätzt, dabei war sie für unsere Vorfahren eine wertvolle Quelle für Nährstoffe und mitunter eine höchst kostbare Süßigkeit. Die Zeiten, in denen sich Rosinenpicker noch die besten Stückchen heraussuchten, sind lange vorbei. Heutzutage sind Rosinenpicker eher Menschen, die großes Unheil abwehren müssen, wenn sie orientalischen Reis, Apfelkuchen oder den Kaiserschmarrn mit der Gabel durchpflügen, um ja nicht eine einzige schrumpelige Beere zu übersehen. Zur Weihnachtszeit erlebt die Rosine
aber ein kleines Comeback. Und für ihre Gegner ist zum Beispiel der Stollen eine herbe Prüfung, schließlich kommen auf 100 Gramm Mehl bis zu 80 Gramm süße Früchtchen. Um mit Stollen auch größere Käufergruppen anzusprechen, setzen
Bäcker vermehrt auf rosinenfreie Alternativen wie Mandelstollen. Und verwundert registriert man mitunter, wie Menschen, die keine Rosinen mögen, dafür nun Cranberrys mit Begeisterung mampfen. Verstehen muss man es nicht.
Die Rosine hat in anderen Ländern einen ganz anderen Stellenwert. In Großbritannien zum Beispiel essen die Kinder von klein auf die kleinen Beeren als Snack aus den kleinen roten Boxen. Auch der klassische Fruit Cake besteht aus vielen Trockenfrüchten, ebenso wie die zu Weihnachten beliebten Christmas Pudding und Mince Pies, in denen sich Korinthen, Sultaninen und Rosinen als Triumvirat des süßen Geschmacks vereinen. Außerdem gibt es Schokoriegel mit Nüssen und Rosinen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Trockenfrüchte sind trotz ihres hohen Zuckergehalts eine naturbelassene Süßigkeit, eine natürliche Leckerei, die mit Bedacht verzehrt werden sollte, aber dennoch mit vielen wertvollen Inhaltsstoffen punktet.
Wer die Rosine noch so halbwegs erträgt, findet in einer anderen weihnachtlichen Zutat dann seinen Endgegner: kandierte Früchte, beziehungsweise Zitronat und Orangeat. Das jagt vielen Menschen Schauder den Rücken hinunter. Allerdings kennen viele nur die geschredderten Würfelchen in der Plastikverpackung, die die wahre Kunst des Kandierens nicht widerspiegelt. Wer schon mal am Maison Auer in Nizza vorbeiflaniert ist und sich an der Scheibe die Nase platt gedrückt hat angesichts von in Zucker getränkten Früchten, der kann mit der Abscheu wenig anfangen. Die kandierte Orangen- oder Zitronenschale zum Beispiel ist in zarte Streifen geschnitten und von einer feinen Zuckerkruste überzogen. Beim Kandieren werden Früchte in eine Zuckerlösung getaucht, dieser Vorgang wird über Tage wiederholt, so wird der Frucht Flüssigkeit entzogen, und sie wird haltbar. Vielleicht sollte man dieser hohen Handwerkskunst doch noch einmal eine Chance geben – mit einem Orangeat und Zitronat de luxe.
Weihnachten wäre noch viel besser, wenn nicht überall getrocknete Trauben drin wären? Von wegen! Eine Liebeserklärung an eine schrumpelige Schönheit, die zu Unrecht bei vielen auf dem Index steht.