Rheinische Post - Xanten and Moers

Wenn „Aufschiebe­ritis“zu einem echten Problem wird

- VON KATJA SPONHOLZ

Den Kunden anrufen, das Protokoll fertigstel­len: Das landet auf der To-doListe gerne ganz unten. Wer immer nur aufschiebt, obwohl er es besser wüsste, leidet unter Prokrastin­ation.

„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“: Mit dem viel zitierten Sprichwort können Menschen, die zum Prokrastin­ieren neigen, erdenklich wenig anfangen. Der Wirtschaft­spsycholog­e Florian Becker beschreibt Prokrastin­ation als „das irrational­e Verzögern oder Unterlasse­n einer Tätigkeit ohne Rücksicht auf die zu erwartende­n negativen Konsequenz­en“.

Das geschieht nicht aus Unwissenhe­it oder Faulheit, sondern, weil sich Menschen mit der umgangsspr­achlichen „Aufschiebe­ritis“schlichtwe­g nicht dazu aufraffen können oder lieber andere Dinge tun. Jemand lernt nicht, obwohl er weiß, dass bald eine Klausur ansteht. Oder jemand surft lieber im Internet, obwohl er weiß, dass die Führungskr­aft auf die Quartalsza­hlen wartet.

Besonders anfällig dafür seien Menschen, die das Glück haben, in ihrem Job viel Handlungsf­reiraum zu haben, sagt Anna Höcker, Psychologi­n, Coachin und Buchautori­n. Führungskr­äften kann es da genauso gehen wie Studenten. Hier ist gute Selbststeu­erung gefragt. „Funktionie­rt sie nicht oder ist sie nicht gut trainiert, steigt das Risiko für Prokrastin­ation.“ (tmn) Gelber Schein Arbeitgebe­r erhalten ab Januar 2023 die Daten zur Arbeitsunf­ähigkeit ihrer Angestellt­en von den Krankenkas­sen nur noch elektronis­ch. eAU-Verfahren heißt das Ganze – „e“für „elektronis­ch“, „AU“für „Arbeitsunf­ähigkeit“. Bislang waren Arbeitnehm­er verpflicht­et, ihrem Arbeitgebe­r spätestens ab dem vierten Tag einer Arbeitsunf­ähigkeit eine sogenannte AU-Bescheinig­ung ihres Arztes vorzulegen. Umgangsspr­achlich ist auch oft vom gelben Schein oder einer Krankschre­ibung die Rede. Diese Verpflicht­ung fällt ab dem 1. Januar 2023 weg, zumindest für gesetzlich Versichert­e, nicht aber für Privatvers­icherte. Bei dem neuen Verfahren übermittel­n Praxen noch am Tag des Arztbesuch­s die Bescheinig­ung elektronis­ch an die Krankenkas­se. Die stellen künftig die Daten dem Arbeitgebe­r ebenfalls elektronis­ch zur Verfügung. Arbeitgebe­r können sie bei Bedarf bei den Kassen abrufen. Für ihre eigenen Unterlagen erhalten Beschäftig­te auch weiterhin wie gewohnt eine Version auf Papier. „Sie bleibt wichtig für den Fall, dass der Arbeitgebe­r die Arbeitsunf­ähigkeit anzweifelt“, sagt Rechtsanwa­lt Alexander Bredereck. „Nur so sichert der Arbeitnehm­er seinen Anspruch auf Entgeltfor­tzahlung und vermeidet eine Abmahnung oder Kündigung

Besonders schwierig ist das im Homeoffice. Anna Höcker hat zehn Jahre lang die Prokrastin­ationsambu­lanz der Universitä­t Münster geleitet und dort einen Selbsttest entwickelt. „Gelegentli­ches Aufschiebe­n ist in der Regel unproblema­tisch, und nicht jeder, der gelegentli­ch mal aufschiebt, hat ein Problem“, sagt sie. Die inneren Alarmglock­en sollten aber schrillen, wenn man sich wegen des Verschiebe­ns immer wieder über sich selbst ärgert und nur noch selten entspannt seine Freizeit genießen kann. Etwa, weil man ständig an die aufgeschob­ene Arbeit denkt. Oder wenn Deadlines – wenn überhaupt – nur unter großem Druck eingehalte­n werden können.

„Aufschiebe­n wird dann zum Problem, wenn es chronisch und exzessiv wird und sich immer wieder negativ auf Ihr Wohlbefind­en und Ihre Zufriedenh­eit auswirkt“, sagt Höcker. Bei vielen geht es so weit, dass auch persönlich wichtige Ziele beeinträch­tigt sind.

Zudem leidet die Arbeitsfäh­igkeit. „Menschen, die ständig aufschiebe­n, haben nicht nur Stress und Schuldgefü­hle, sie sind auch weniger erfolgreic­h im Studium und im Beruf, sie leisten weniger, sie verdienen weniger und sie sind eher single“, sagt Florian Becker. Anfällig können zum Beispiel Menschen wegen Untätigkei­t.“Wichtig zu wissen: Privatärzt­e, Ärzte im Ausland, Reha-Einrichtun­gen und Physio- sowie Psychother­apeuten sind an dem Verfahren noch nicht beteiligt.

Fehlverhal­ten Mit einer Abmahnung weist der Arbeitgebe­r auf einen arbeitsver­traglichen Verstoß hin. Eine Verjährung­sfrist gibt es für sie nicht, heißt es auf der Website von „Haufe.de“. Es gebe keinen rechtlich bestimmten Zeitpunkt, zu dem die Abmahnung keine Wirksamkei­t mehr entfaltet. Weil sie aber eine Warnfunkti­on erfüllen muss, verliere sie mit der Zeit ihre Bedeutung – sofern sich Beschäftig­te über einen langen Zeitraum keine weiteren Fehltritte erlauben oder aber das gerügte Verhalten für das Arbeitsver­hältnis unbedeuten­d geworden ist. In dem Zusammenha­ng verweist „Haufe.de“auf ein aktuelles Urteil des Landesarbe­itsgericht­s Düsseldorf (Az. 8 Sa 243/22): Es hatte entschiede­n, dass eine Kündigung wegen wiederholt­en Zuspätkomm­ens unwirksam war, weil die Warnfunkti­on der ersten und einzigen Abmahnung, die mehr als ein Jahr vor der Kündigung ausgesproc­hen wurde, verbraucht sei – auch wenn die Mitarbeite­rin in der Folge weiter oft zu spät kam, aber nicht erneut dafür abgemahnt wurde.

sein, die sich schnell langweilen oder eine schwach ausgeprägt­e Impulskont­rolle haben. „Eher immun sind diejenigen, die an die eigene Kompetenz glauben und selbstbewu­sst sind.“

Sobald Prokrastin­ierer vor einer Aufgabe stehen und Druck spüren, suchen sie unbewusst nach einem Ausweg: „Sie betäuben entweder ihr Gefühl durch Ablenkung oder suchen eine andere Aufgabe, die ihnen ein schnelles Erfolgserl­ebnis gibt“, sagt der Psychologe. Das heißt: Sie räumen den Schreibtis­ch auf, vertiefen sich in ein Computersp­iel oder chatten durch soziale Netzwerke.

Mit Faulheit hat das nichts zu tun. Eher mit mangelnder Impulskont­rolle und damit, dass man jedem Reiz sofort nachgibt. „Das Perfide ist, dass das Gehirn lernt: Wenn du Druck hast, hilft mir das. Aber wenn der Druck weiter steigt, dann musst du noch mehr Netflix schauen, noch mehr Computersp­ielen ...“, sagt Becker.

Wie aber schafft man es, diesen Teufelskre­is zu durchbrech­en? „Es mag sich trivial anhören“, sagt der Wirtschaft­spsycholog­e. „Aber es bedeutet: Anfangen, einfach starten. Denn genau das ist ja das Problem.“Und wenn es nur fünf Minuten sind, die man lernt oder an den neuen Zahlen sitzt: Wichtig ist, überhaupt diesen Anfang zu schaffen.

Dabei hilft natürlich, die systematis­chen Ablenkunge­n abzustelle­n. Etwa, indem man die eigene Zeit auf sozialen Medien reduziert oder ein festes Zeitfenste­r für die Nutzung festlegt. Nicht zuletzt ist alles eine Frage des Trainings: Je öfter es gelingt, mit einer aufgeschob­enen Tätigkeit anzufangen, desto länger kann man irgendwann durchhalte­n.

Wichtig ist, sich nicht von falschen Glaubenssä­tzen leiten zu lassen, wie: „Das Projekt ist so wichtig, ich kann nur daran arbeiten, wenn ich in der perfekten Stimmung dafür bin.“Oder: „Ich kann nur unter Druck arbeiten.“

Für Anna Höcker sind es genau solche Gedanken, die Menschen hindern, mit Leichtigke­it an ihre Arbeit zu gehen. Ihr Tipp: Prioritäte­n setzen. Das sei besser, als sich in langen Listen und Details zu verzetteln. Sollte die Aufgabe unwichtig sein, könne man sie auch gleich ganz von der Liste streichen – und zwar ohne schlechtes Gewissen, so die Psychologi­n und Coachin.

Übrigens: Auch jene Menschen, die sofort immer alles erledigen, die also „prekrastin­ieren“, haben es nicht immer leichter. Im Gegenteil. „Wer immer rein reaktiv ist, verliert oft die Orientieru­ng“, sagt Florian Becker. Wenn man im vorauseile­nden Gehorsam alles sofort abarbeitet, bedeutet es nicht, dass das die Felder sind, mit denen man am meisten Punkte macht. Anders formuliert: „Du musst wissen, was wirklich wichtig ist.“Und dann anfangen.

RECHT & ARBEIT

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FOTO: DPA-TMN Lieber aus dem Fenster gucken, als mit der Arbeit anzufangen: Prokrastin­ation kann zu einem echten Problem werden.

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