Rheinische Post - Xanten and Moers
EU-Parlament am Abgrund
Taschen voller Geld bei einer führenden Politikerin der Europäischen Union, die das Land preist, von dem das Geld stammen soll – das scheint zu dick aufgetragen für fiktiven Filmstoff. Und doch sind es genau diese Bilder, die sich dem Publikum am Wochenende in der Brüsseler Wirklichkeit boten. Wo so viel Unbekümmertheit beim Sichkaufenlassen herrscht, muss dem Verdacht nachgegangen werden, dass da noch mehr sein könnte. Wenn die griechische Vizepräsidentin des Europaparlaments, ihr Lebensgefährte, ein ehemaliger italienischer Abgeordneter, seine Familie und ein Gewerkschaftschef es offenbar als normal ansahen, die Hände aufzuhalten, könnte sich ein Abgrund an Korruption im EU-Parlament und dessen Umfeld auftun.
Es ist aber jetzt schon verheerend für das Ansehen der Institution. Und es ist fatal für das Auftreten der europäischen Sozialdemokratie. Ausgerechnet diejenigen, die in besonderer Weise für wertegebundene Politik stehen wollen, die am lautesten über wirtschaftliche Verflechtungen anderer politischer Strömungen herziehen, haben nun einen moralischen Totalschaden erlitten. Weil es oft um Milliardensummen geht, hat sich ein dichtes Geflecht von Lobbyismus um Kommission, Rat und Parlament gebildet. Dem stellen die EU-Institutionen strenge Transparenzregeln entgegen. In Richtung Drittstaaten hat das System offenbar versagt. Da muss nachgebessert werden.
Das Europäische Parlament hat vorerst jeden Anspruch verloren, glaubwürdig die Bekämpfung von Korruption bei anderen einzufordern. Ein Parlament, das Ungarn so lange Geld vorenthalten will, wie die Korruptionsbekämpfung in Budapest nicht ausreicht, hätte Viktor Orbán keinen größeren Dienst erweisen können als durch einen großen Korruptionsskandal in den eigenen Reihen. Der europäische Parlamentarismus ist schwer beschädigt.