Rheinische Post - Xanten and Moers

Marokko schreibt Geschichte

- VON ULRIKE JOHN, MIRIAM SCHMIDT, SEBASTIAN STIEKEL UND JOHANNES SADEK

Erstmals steht ein Team aus Afrika im Halbfinale einer Fußball-WM. Die Mannschaft begeistert mit ihrem Spiel. Die Euphorie will Trainer Walid Regragui trotz verletzter Spieler nicht bremsen.

DOHA (dpa) Das Spektakel in den Straßen von Rabat schaute sich König Mohammed VI. aus der Ferne an. Am Telefon überbracht­en Halbfinal-Gegner Emmanuel Macron und WM-Gastgeber Tamim Bin Hamad Al Thani dafür die „wärmsten Glückwünsc­he“für diese wieder historisch­e Leistung der Marokkaner bei der WM in Katar. Das Mannschaft­sfoto der Profis in den roten Trikots und grünen Hosen auf dem Rasen des Al-Thumama Stadions wird für immer in den Fußball-Geschichts­büchern zu finden sein: Als erstes afrikanisc­hes Team stehen die Löwen vom Atlas in einem WM-Halbfinale, gefeiert nicht nur in Afrika, sondern in vielen Teilen der arabischen Welt. Und der Trainer denkt bereits an den ganz, ganz großen Coup.

„Warum sollten wir nicht davon träumen, eine WM zu gewinnen? Es kostet nichts, Träume zu haben“, sagte Walid Regragui nach dem Viertelfin­al-Triumph gegen Portugal und Superstar Cristiano Ronaldo am Samstagabe­nd in Doha. Nach nur acht Spielen als Nationaltr­ainer führt die Traumreise des Außenseite­rs den im französisc­hen CorbeilEss­onnes geborenen 47-Jährigen nun ausgerechn­et ins Halbfinale gegen Frankreich. „In allen Ecken des afrikanisc­hen Kontinents, der arabischen und der islamische­n Welt hatten die Löwen Millionen Unterstütz­er hinter sich“, schrieb „Le Matin“in Marokko.

Über eine Halbzeit lang hatte Regraguis Team die 1:0-Führung durch Youssef En-Nesyri (42. Minute) gegen den Ex-Europameis­ter verteidigt. Auch dann noch mit unbändiger Leidenscha­ft, als die ersten Spieler mit Muskelkräm­pfen kämpften. Jeden Befreiungs­schlag, jedes gewonnenes Kopfballdu­ell und jeden Ball ins Seitenaus feierten die Anhänger in Rot.

„Der Trainer hat in der Halbzeit nicht gesagt: Hoffentlic­h halten wir noch 45 Minuten durch. Sondern: Es sind nur noch 45 Minuten, um Geschichte zu schreiben“, erzählte Mittelfeld­spieler Bilal El Khannous später. Als alles vorüber war, da warfen Marokkos Spieler und Betreuer Regragui in die Luft, wie schon beim Sieg im Elfmetersc­hießen gegen Spanien zuvor. Mittelfeld­spieler Sofiane Boufal legte mit seiner Mutter ein Tänzchen auf dem Rasen hin. Torwart Bono nahm später freudestra­hlend und schon routiniert die Auszeichnu­ng als „Spieler des Spiels“entgegen. „Wir hatten Verletzung­en, aber wir haben eine unglaublic­he Leistung gezeigt“, sagte der Profi vom FC Sevilla. Strahlend fügte er während der Pressekonf­erenz hinzu: „Kneif mich, ich glaube, ich träume.“

Afrika und die WM – 2010 war Gastgeber Südafrika in der Vorrunde ausgeschie­den. In einem WM-Viertelfin­ale standen bisher Kamerun 1990, Senegal 2002 und Ghana 2010 – aber Marokko toppt längst alle. „Es ist sehr hart, uns zu schlagen. Das ist die Botschaft, die ich senden möchte“, sagte Regragui nach dem Triumph. „Es ist kein Wunder. Viele halten es für ein Wunder, vor allem in Europa. Das ist kein Wunder, das ist das Ergebnis harter Arbeit.“

Der 52-malige Nationalsp­ieler Marokkos hat es als ehemaliger Abwehrspie­ler geschafft, dass seine Auswahl weiterhin mit nur einem Gegentor durchs Turnier marschiert – und das war ein Eigentor beim 2:1 gegen Kanada. Abdelhamid Sabiri, der in Frankfurt aufwuchs und schon für den 1. FC Nürnberg und SC Paderborn spielte, meinte: „Es ist ein unbeschrei­bliches Gefühl. Hoffentlic­h geht‘s so weiter.“

„Wir haben so viele Menschen auf der Welt glücklich gemacht“, sagte Regragui und fand einen Vergleich in einer Boxer-Legende, in einem berühmten Film gespielt von Sylvester Stallone: „Wir sind der Rocky dieser

WM. Wenn man Rocky Balboa gut findet, dann wegen seiner Leidenscha­ft. Man muss träumen und daran glauben.“

Marokko musste allerdings auch einiges einstecken und kämpft mit Ausfällen. Noussair Mazraoui vom FC Bayern fehlte gegen Portugal krank, Nayef Aguerd von West Ham verletzt. Kapitän Romain Saiss von Besiktas Istanbul musste vom Rasen getragen werden. Der Ex-Dortmunder Achraf Hakimi, so der Coach, habe „sich schlecht gefühlt, aber er hat gekämpft“. In der hektischen Schlusspha­se sah Walid Cheddira zudem Gelb-Rot. „Ich habe 26 Spieler. Wenn man dieses Turnier gewinnen will, muss man an alle glauben“, erklärte Regragui.

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FOTO: MARTIN MEISSNER/AP Die marokkanis­chen Spieler feiern den historisch­en WM-Sieg im Viertelfin­ale gegen Portugal ausgelasse­n.

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