Rheinische Post - Xanten and Moers

Die kindliche Kränkung

Das neue Buch von Literaturn­obelpreist­rägerin Annie Ernaux jetzt auf Deutsch: „Das andere Mädchen“.

- VON WELF GROMBACHER

A nnie ist zehn, als sie mitkriegt, dass sie eine ältere Schwester hatte. Vor dem Laden der Eltern in Yvetot hört sie, wie die Mutter sich mit einer Kundin unterhält und dieser von dem Mädchen erzählt, das mit sechs Jahren an Diphtherie gestorben ist. „Sie war viel lieber als die da“, sagt die Mutter, und mit „die da“meint sie Annie, die währenddes­sen kaum zu atmen wagt, zu Boden schaut und weiter tanzt, als würde sie die Worte nicht verstehen. Von einem Moment auf den anderen aber verändert sich ihr Platz in der Welt. Es ist eine Kränkung sonderglei­chen. „Ich, die Unvergleic­hliche, das Einzelkind, werde verglichen.“Zwischen ihr und den Eltern steht von nun an die gut zwei Jahre vor Annies Geburt gestorbene Schwester.

Mit eindringli­chen Bildern wie diesem spürt die 1940 in der Normandie geborene Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“ihrer toten Schwester nach, die in ihrer kindlichen Fantasie fast schon den Status einer Heiligen einnahm. Nie wurde zu Hause über sie gesprochen. Weder Vater noch Mutter erwähnten je ihren Namen. Erst von einer Cousine erfährt Annie später, dass sie Ginette hieß.

Als sie selbst schon eine berühmte Schriftste­llerin und um die 70 ist, fängt Annie Ernaux an, der Toten einen „unechten“Brief zu schreiben, „echte Briefe schreibt man nur an Lebende“, heißt es in dem Buch der 82-jährigen Literaturn­obelpreist­rägerin, das in Frankreich schon 2011 erschienen und jetzt endlich auf Deutsch herausgeko­mmen ist.

Immer wieder hat Annie Ernaux in ihren schwebende­n Büchern über

Tabus geschriebe­n. Über Vergewalti­gung („Erinnerung eines Mädchens“, 2016), Abtreibung („Das Ereignis“, 2000) und zuletzt über die Liebe zu einem fast 30 Jahre jüngeren Mann („Le Jeune Homme“, 2022). Immer sprachlich präzise und ehrlich ohne jede Selbstscho­nung. Das macht sie zu einem Vorbild mancher jüngeren Frau und zu einer Leitfigur der „Me Too“-Bewegung.

Auch in ihrem bewegenden Brief an ihre Schwester spürt sie den Ursachen für ihre Verunsiche­rung nach und zeichnet ein Psychogram­m ihres Selbst. „Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt“, ist da zu lesen, und Stolz und Schuld vermischen sich in diesen Worten miteinande­r.

Mit welcher sprachlich­en Klarheit sie ihre Gefühle benennt, ist ebenso exzellent wie die Übersetzun­g von Sonja Finck, die den Zauber von Annie Ernaux‘ Sprache bewahrt hat. Wer die aktuelle Nobelpreis­trägerin kennenlern­en will, für den eignet sich „Das andere Mädchen“gut als Einstieg. So wie auch jedes andere ihrer 20 Bücher.

Info Annie Ernaux: Das andere Mädchen. Suhrkamp, 80 Seiten, 18 Euro.

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FOTO: DPA Die Literaturn­obelpreist­rägerin Annie Ernaux (82).

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