Rheinische Post - Xanten and Moers

Der lange Abschied vom Balkan

- VON THOMAS ROSER

Kroatien führt zum 1. Januar den Euro ein, und es darf dem Schengen-Raum beitreten. Beides wird im Land als Rückkehr nach Westen gefeiert. Doch ganz hat man sich noch nicht aus den Schatten der Geschichte befreit.

Eine tonnenschw­ere Last fiel nach der Entscheidu­ng der EU-Innenminis­ter den kroatische­n Würdenträg­ern vom Herzen. Kroatiens Bürger stünden endlich vor dem Eintritt in „die weltweit größte Zone der Bewegungsf­reiheit“, frohlockte Innenminis­ter Davor Bozinovic: „Nichts ist vom Himmel gefallen. Kroatien hat gezeigt, dass es zu Recht EU-Mitglied und imstande ist, alle Bedingunge­n für den Schengen-Beitritt umzusetzen.“Die Kontrollen an den kroatische­n Grenzen zu den EU-Partnern Slowenien und Ungarn werden Anfang 2023 entfallen, die zu den ex-jugoslawis­chen Ex-Bruderstaa­ten Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowin­a werden dagegen verstärkt. Als Vollendung des Beitritts zur Europäisch­en Union 2013 feiert Kroatien den nahenden Schengen-Beitritt – und die Einführung des Euro am 1. Januar. Mit der gemeinsame­n Währung und dem Reisen „ohne Warten an der Grenze“kehre Kroatien „nach 104 Jahren in die Zivilisati­on zurück, der es zugehört“, schrieb das Portal Index.hr bereits über „den endgültige­n Abschied vom Balkan“.

Tatsächlic­h findet sich Kroatien trotz eines Stottersta­rts in der EU immer besser zurecht. Die Folgen des Kroatiensk­riegs (1991–1995) und der Weltwirtsc­haftskrise von 2008/09 hätten dem Land auch nach dem EU-Beitritt noch lange zu schaffen gemacht, räumt Zdenko Lucic, Staatsekre­tär im Außenminis­terium, gegenüber unserer Redaktion offen ein: „Doch der Wind hat sich gedreht, der Trend geändert. Es hat sich alles ausgezahlt, was Kroatien für die EU-Integratio­n getan hat.“

Ganz anders sah die Zagreber Bilanz noch vor wenigen Jahren aus: Als „EUNeuling der verpassten Chancen“und „Europas neues Problemkin­d“machte Kroatien in den ersten Jahren von sich reden. Schon kurz vor seinem Beitritt im Juli 2013 hatte das EU-Neumitglie­d die Partner mit der Einführung eines Sondergese­tzes verärgert, das die Auslieferu­ng eines früheren Geheimdien­stchefs nach Deutschlan­d verhindern sollte. Von wirtschaft­licher Aufholjagd konnte lange keine Rede sein: Statt mit kräftigen Zuwächsen wartete Kroatien in den ersten beiden EU-Jahren mit Minuswachs­tum auf. Gemessen an der Wirtschaft­sleistung pro Kopf, musste sich Kroatien 2017 sogar von Rumänien überholen lassen – und galt fortan als zweitärmst­es EU-Mitglied nach Bulgarien.

Dass nach dem EUBeitritt die Arbeitslos­igkeit stark gesunken ist, liegt auch an der Emigration. Laut Volkszählu­ng von 2021 ist die Bevölkerun­g seit der Unabhängig­keit 1991 von 4,7 Millionen um fast ein Fünftel auf 3,9 Millionen Einwohner geschrumpf­t, Tendenz: weiter sinkend. Die Leute würden abwandern auf der Suche „nach Brot, wegen der Korruption und des Klientelis­mus“, kommentier­te die Zeitung „Slobodna Dalmacija“bitter die Entwicklun­g: „Die Leute gehen, weil das, was 1991 versproche­n wurde, irgendwie nie kommt.“

Tatsächlic­h erschweren noch immer die Schatten des Krieges, aber auch die Vettern- und Parteiwirt­schaft Kroatiens avisierten Abschied vom Balkan. Nicht nur das oft gespannte Verhältnis zu den früheren Bruderstaa­ten zeugt davon, dass das Land mental noch immer ein wenig im Kriegsjahr­zehnt verharrt: Oft ist es nicht nur in Belgrad und Sarajevo, sondern eben auch in Zagreb die Rücksicht auf nationalis­tische Empfindlic­hkeiten im eigenen Land, die den Ausgleich mit den Nachbarn erschwert.

Noch stets gelten die unversöhnl­ichen Veteranenv­erbände als feste politische Größe. Immerhin ist es Regierungs­chef Andrej Plenkovic in den vergangene­n Jahren geglückt, den nationalis­tischen

Zdenko Lucic Staatssekr­etär im kroatische­n Außenminis­terium

Flügel seiner konservati­ven Partei HDZ weitgehend kaltzustel­len. Und massive EU-Hilfen bei der Bewältigun­g der Folgen der Erdbeben von 2019 und der Corona-Krise haben EU-skeptische­n Protestpar­teien Zulauf entzogen.

Wirtschaft­lich segelt der stark vom Tourismus abhängige Küstenstaa­t nach den Einbrüchen von 2020 wieder in ruhigeren Gewässern. 2021 wies das Land mit 10,2 Prozent gar eine der höchsten Wachstumsr­aten der EU auf; für 2022 sind 5,9 Prozent prognostiz­iert. In der Wohlstands­tabelle der EU ist Kroatien etwas nach oben gekrabbelt – und hat außer Bulgarien mittlerwei­le auch die Slowakei und Griechenla­nd hinter sich gelassen. Auch für die Eurozone wirkt Kroatien mit einem Haushaltsd­efizit von 2,8 Prozent und einer Staatsschu­ld von 70,2 Prozent besser gerüstet als manches Altmitglie­d.

Zwar scheint Kroatien noch immer nicht ganz im Westen angekommen. Doch mit einem Durchschni­ttseinkomm­en von etwas mehr als 1000 Euro netto im Monat haben sich die Kroaten von ihren verarmten ex-jugoslawis­chen Brüdern im EU-Wartesaal mittlerwei­le klar abgesetzt. Erfolgreic­he Start-ups wie der Elektromot­orpionier Rimac und der IT-Konzern Infobip, die sich von Garagenbet­rieben zu milliarden­schweren „Einhörnern“gemausert haben, nähren in Kroatien die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zwar fürchten viele Kroaten durch die Euro-Einführung auch Preiserhöh­ungen. Doch die Perspektiv­en werden sich nach Überzeung von Staatssekr­etär Lucic dank Euro und Schengen erheblich verbessern.

Schengen erleichter­e nicht nur die Anreise, sondern auch den Warenausta­usch. Dank der Euro-Einführung sei das Kreditrati­ng schon jetzt gestiegen und werde Kroatien auch für Investoren interessan­t, die das Land bisher links liegengela­ssen hätten: „Wir müssen Firmen ansiedeln, die höhere Löhne und qualifizie­rte Arbeitsplä­tze bieten. Dann kommen auch die ins Ausland abgewander­ten Fachkräfte wieder zurück.“

„Der Wind hat sich gedreht, der Trend geändert“

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