Rheinische Post - Xanten and Moers
Der lange Abschied vom Balkan
Kroatien führt zum 1. Januar den Euro ein, und es darf dem Schengen-Raum beitreten. Beides wird im Land als Rückkehr nach Westen gefeiert. Doch ganz hat man sich noch nicht aus den Schatten der Geschichte befreit.
Eine tonnenschwere Last fiel nach der Entscheidung der EU-Innenminister den kroatischen Würdenträgern vom Herzen. Kroatiens Bürger stünden endlich vor dem Eintritt in „die weltweit größte Zone der Bewegungsfreiheit“, frohlockte Innenminister Davor Bozinovic: „Nichts ist vom Himmel gefallen. Kroatien hat gezeigt, dass es zu Recht EU-Mitglied und imstande ist, alle Bedingungen für den Schengen-Beitritt umzusetzen.“Die Kontrollen an den kroatischen Grenzen zu den EU-Partnern Slowenien und Ungarn werden Anfang 2023 entfallen, die zu den ex-jugoslawischen Ex-Bruderstaaten Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina werden dagegen verstärkt. Als Vollendung des Beitritts zur Europäischen Union 2013 feiert Kroatien den nahenden Schengen-Beitritt – und die Einführung des Euro am 1. Januar. Mit der gemeinsamen Währung und dem Reisen „ohne Warten an der Grenze“kehre Kroatien „nach 104 Jahren in die Zivilisation zurück, der es zugehört“, schrieb das Portal Index.hr bereits über „den endgültigen Abschied vom Balkan“.
Tatsächlich findet sich Kroatien trotz eines Stotterstarts in der EU immer besser zurecht. Die Folgen des Kroatienskriegs (1991–1995) und der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 hätten dem Land auch nach dem EU-Beitritt noch lange zu schaffen gemacht, räumt Zdenko Lucic, Staatsekretär im Außenministerium, gegenüber unserer Redaktion offen ein: „Doch der Wind hat sich gedreht, der Trend geändert. Es hat sich alles ausgezahlt, was Kroatien für die EU-Integration getan hat.“
Ganz anders sah die Zagreber Bilanz noch vor wenigen Jahren aus: Als „EUNeuling der verpassten Chancen“und „Europas neues Problemkind“machte Kroatien in den ersten Jahren von sich reden. Schon kurz vor seinem Beitritt im Juli 2013 hatte das EU-Neumitglied die Partner mit der Einführung eines Sondergesetzes verärgert, das die Auslieferung eines früheren Geheimdienstchefs nach Deutschland verhindern sollte. Von wirtschaftlicher Aufholjagd konnte lange keine Rede sein: Statt mit kräftigen Zuwächsen wartete Kroatien in den ersten beiden EU-Jahren mit Minuswachstum auf. Gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf, musste sich Kroatien 2017 sogar von Rumänien überholen lassen – und galt fortan als zweitärmstes EU-Mitglied nach Bulgarien.
Dass nach dem EUBeitritt die Arbeitslosigkeit stark gesunken ist, liegt auch an der Emigration. Laut Volkszählung von 2021 ist die Bevölkerung seit der Unabhängigkeit 1991 von 4,7 Millionen um fast ein Fünftel auf 3,9 Millionen Einwohner geschrumpft, Tendenz: weiter sinkend. Die Leute würden abwandern auf der Suche „nach Brot, wegen der Korruption und des Klientelismus“, kommentierte die Zeitung „Slobodna Dalmacija“bitter die Entwicklung: „Die Leute gehen, weil das, was 1991 versprochen wurde, irgendwie nie kommt.“
Tatsächlich erschweren noch immer die Schatten des Krieges, aber auch die Vettern- und Parteiwirtschaft Kroatiens avisierten Abschied vom Balkan. Nicht nur das oft gespannte Verhältnis zu den früheren Bruderstaaten zeugt davon, dass das Land mental noch immer ein wenig im Kriegsjahrzehnt verharrt: Oft ist es nicht nur in Belgrad und Sarajevo, sondern eben auch in Zagreb die Rücksicht auf nationalistische Empfindlichkeiten im eigenen Land, die den Ausgleich mit den Nachbarn erschwert.
Noch stets gelten die unversöhnlichen Veteranenverbände als feste politische Größe. Immerhin ist es Regierungschef Andrej Plenkovic in den vergangenen Jahren geglückt, den nationalistischen
Zdenko Lucic Staatssekretär im kroatischen Außenministerium
Flügel seiner konservativen Partei HDZ weitgehend kaltzustellen. Und massive EU-Hilfen bei der Bewältigung der Folgen der Erdbeben von 2019 und der Corona-Krise haben EU-skeptischen Protestparteien Zulauf entzogen.
Wirtschaftlich segelt der stark vom Tourismus abhängige Küstenstaat nach den Einbrüchen von 2020 wieder in ruhigeren Gewässern. 2021 wies das Land mit 10,2 Prozent gar eine der höchsten Wachstumsraten der EU auf; für 2022 sind 5,9 Prozent prognostiziert. In der Wohlstandstabelle der EU ist Kroatien etwas nach oben gekrabbelt – und hat außer Bulgarien mittlerweile auch die Slowakei und Griechenland hinter sich gelassen. Auch für die Eurozone wirkt Kroatien mit einem Haushaltsdefizit von 2,8 Prozent und einer Staatsschuld von 70,2 Prozent besser gerüstet als manches Altmitglied.
Zwar scheint Kroatien noch immer nicht ganz im Westen angekommen. Doch mit einem Durchschnittseinkommen von etwas mehr als 1000 Euro netto im Monat haben sich die Kroaten von ihren verarmten ex-jugoslawischen Brüdern im EU-Wartesaal mittlerweile klar abgesetzt. Erfolgreiche Start-ups wie der Elektromotorpionier Rimac und der IT-Konzern Infobip, die sich von Garagenbetrieben zu milliardenschweren „Einhörnern“gemausert haben, nähren in Kroatien die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zwar fürchten viele Kroaten durch die Euro-Einführung auch Preiserhöhungen. Doch die Perspektiven werden sich nach Überzeung von Staatssekretär Lucic dank Euro und Schengen erheblich verbessern.
Schengen erleichtere nicht nur die Anreise, sondern auch den Warenaustausch. Dank der Euro-Einführung sei das Kreditrating schon jetzt gestiegen und werde Kroatien auch für Investoren interessant, die das Land bisher links liegengelassen hätten: „Wir müssen Firmen ansiedeln, die höhere Löhne und qualifizierte Arbeitsplätze bieten. Dann kommen auch die ins Ausland abgewanderten Fachkräfte wieder zurück.“
„Der Wind hat sich gedreht, der Trend geändert“