Rheinische Post - Xanten and Moers
Zwischen Kanzleramt und Debatten-Camp
Seit einem Jahr ist das Duo Esken und Klingbeil an der Spitze der SPD im Amt. Zeit für eine erste Bilanz.
BERLIN Bei dieser Frage kommen die beiden SPD-Vorsitzenden kurz ins Nachdenken: Ob sie im ersten Jahr an der Parteispitze etwas voneinander gelernt haben, das sie vorher nicht wussten? Saskia Esken und Lars Klingbeil schauen einander kurz etwas fragend an. Das Duo ist genau seit einem Jahr im Amt, harmoniert erstaunlich gut. Und so fällt beiden auch nichts Neues ein. Als man sich entschlossen habe, gemeinsam anzutreten, habe man sich quasi streng gegenseitig unter die Lupe genommen. Seitdem laufe es, so der Tenor. Die beiden verkörpern unterschiedliche Flügel der Partei, setzen inhaltlich andere Schwerpunkte. Und schaffen es doch, mögliche Konflikte zumindest aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten – und somit Kanzler Olaf Scholz den Rücken zu stärken.
Dennoch fällt die Bilanz der Sozialdemokraten im ersten Jahr als Kanzlerpartei gemischt aus. Die Erhöhung des Mindestlohns war ein zentrales Wahlversprechen der Sozialdemokraten, das eingelöst wurde. Auch die ungeliebte Hartz-IVDebatte konnte die Partei mit der
Verabschiedung des Bürgergelds hinter sich lassen. Allerdings liegt man am Ende des ersten Jahres in Umfragen deutlich hinter der Union, häufig auch hinter den Grünen.
Auch mit Blick auf die Landtagswahlen 2022 ist die Bilanz nicht ungetrübt. Der Rückeroberung der saarländischen Staatskanzlei und der erneuten Regierungsverantwortung in Hannover stehen schmerzhafte Stimmverluste bei den Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein gegenüber. Das
Jahr 2023 bringt erneut vier Landtagswahlen. In Berlin wird sich die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey einer vorgezogenen Wahl stellen müssen, nachdem die Ausrichtung der Wahl 2021 unter einer SPD-Regierung im Chaos endete. In Bremen verlor die SPD bei der letzten Landtagswahl den Status als stärkste Partei, konnte aber mit einer Koalition weiterregieren. Bayern wiederum ist für die SPD ein schweres Pflaster. Bleibt die Wahl in Hessen, die möglicherweise Rückwirkungen auch auf das Willy-Brandt-Haus hat. Gibt es doch begründete Spekulationen, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser als Spitzenkandidatin versuchen könnte, Wiesbaden zu erobern. Sollte sie dafür aus dem Kabinett ausscheiden, könnte das eine Personalrochade auslösen.
Was kommt im nächsten Jahr auf die Partei zu? Im Dezember 2023 wird die Partei sowohl über eine neue Parteiführung entscheiden als auch, so kündigte Klingbeil es nun an, einen Grundsatzbeschluss zur Außen- und Sicherheitspolitik verabschieden. Und dann kommt noch ein Kapitel zur Sprache, das vor allem Klingbeil schmerzen dürfte. Für ihn hat es in diesem Jahr den Bruch mit seinem Mentor, Altkanzler Gerhard Schröder, gegeben. Schröders Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin ist für die Partei ein Problem, ausgeschlossen wurde Schröder jedoch nicht. Über den Kurs der Partei entschieden die beiden Parteivorsitzenden, der Fraktionschef und der Kanzler, sagt Klingbeil, angesprochen auf Schröder, deutlich: „Und jeder andere ist gut beraten, sich dem Kurs der Parteiführung anzuschließen.“