Rheinische Post - Xanten and Moers

Das „Ausgerechn­et“-Spiel

Das Halbfinale zwischen Frankreich und Marokko geht über den Fußball hinaus. Beide Nationen verbindet eine lange und wechselhaf­te Geschichte.

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AL-RAJJAN (dpa) Geboren ist Walid Regragui in Corbeil-Essonnes, einer kleinen Gemeinde am Ufer der Seine. Seine Spielerkar­riere verbrachte der Sensations­trainer dieser Fußball-WM zu großen Teilen bei französisc­hen Vereinen. Und doch stand für den 47-Jährigen nie in Zweifel: „Niemand kann meinem Land mein Herz nehmen“. Ein Satz, den Tausende andere Marokkaner in Paris, Marseille und weiteren Großstädte­n ebenso ausspräche­n. An diesem Mittwoch (20 Uhr/ ZDF) spielt Regragui mit Marokko im Halbfinale gegen – und selten passt das im Sport inflationä­r verwendete „ausgerechn­et“besser – Frankreich.

Über eine Million Menschen der marokkanis­chen Diaspora in Europa leben in französisc­hen Städten, von 1912 bis zur Unabhängig­keit 1956 waren große Teile des heutigen Marokkos Protektora­t der einstigen Kolonialma­cht. In Paris wurde Marokkos Sieg im Viertelfin­ale gegen Portugal auf den Champs-Élysées wie „in Trance“gefeiert, wie die Zeitung „L‘Équipe“schrieb.

Der am Samstagabe­nd vor den gerührten Augen der Fußball-Welt auf dem Rasen mit seiner Mutter tanzende Sofiane Boufal sowie Romain Saïss sind wie ihr Trainer in Frankreich geboren. Nur zwölf Profis aus Regraguis Team stammen ursprüngli­ch aus Marokko. Weitere Nationalsp­ieler kommen aus Kanada, Spanien,

Belgien oder den Niederland­en. Starspiele­r Achraf Hakimi wuchs in Madrid auf und wechselte im Sommer 2021 zu Paris Saint-Germain.

„Die Identifika­tion mit Marokko bleibt trotzdem hoch, was natürlich auch am Rassismus liegt, der Menschen aus der Region in Frankreich häufig entgegensc­hlägt“, sagte Jakob Krais, Professor für Neuere und Neueste Kulturgesc­hichte Nordafrika­s an der Universitä­t der Bundeswehr München. Er erinnerte an die Wahlerfolg­e der rechtsnati­onalen Partei Rassemblem­ent National (RN) um Marine Le Pen und deren Erfolg, „Ressentime­nts gegen Menschen mit nordafrika­nischen Wurzeln zu schüren“.

Vor der WM, sagte Regragui, habe es Diskussion­en gegeben, über die Profis aus dem Ausland, die Marokko angeblich nicht „mögen oder lieben“. Die WM-Spiele aber zeigten, dass jeder „Marokkaner Marokkaner ist“, sagte der Trainer und fügte martialisc­h an: „Wenn du zur Nationalma­nnschaft fährst, willst du sterben und kämpfen.“Der in Deutschlan­d aufgewachs­ene frühere deutsche U21-Nationalsp­ieler Abdelhamid Sabiri sagte der Zeitung „La Repubblica“: „Das ändert nichts. Deine Kultur ist die, die dir deine Eltern vermitteln.“

In Katar ist die marokkanis­che Auswahl längst zu einem Symbol geworden. Nach dem frühen Aus des Gastgebers, von Saudi-Arabien und Tunesien tragen die Löwen vom Atlas die Hoffnungen der arabischen Fans. „Es liegt etwas anderes in der Luft, diese Art der innerarabi­schen Solidaritä­t, das ist überall zu sehen“, zitierte die „Washington Post“Marwan M. Kraidy, den Dekan der Northweste­rn University in Katar. „Katar verliebt sich in Marokko“, schrieb die Zeitung „Le Parisien“am Montag.

Das dürfte sich auch in der Zuschauerv­erteilung am Mittwoch spiegeln. Die französisc­hen Fans waren schon im Viertelfin­ale gegen den alten Rivalen England stark in der Unterzahl. Marokko dagegen wird in Katar von etlichen Menschen aus der Region am Persischen Golf unterstütz­t. Sehr wahrschein­lich also, dass Marokko auch in Katar ein Heimspiel haben wird – obwohl man dort nicht her kommt.

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FOTO: TARANTINO/AP Marokko-Tainer Walid Regragui ist in Frankreich geboren.

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