Rheinische Post - Xanten and Moers
Die Spätberufenen
Die Debütromane von Bonnie Garmus (65) und Delia Owens (73) sind Bestseller. Was macht die beiden Autorinnen so erfolgreich?
Zwei Frauen haben in den vergangenen Monaten frischen Wind in den Buchmarkt gebracht. Sie beweisen, dass es tatsächlich möglich ist, die Dominanz der ewig gleichen Namen auf den Bestsellerlisten zu brechen. Und sie widerlegen den Irrglauben, dass Debütantinnen jung sein müssen. Delia Owens, die Autorin des weltweit mehr als 15 Millionen Mal verkauften Romans „Der Gesang der Flusskrebse“, ist 73 Jahre alt. Bonnie Garmus, die „Eine Frage der Chemie“allein im deutschsprachigen Raum bisher 400.000 Mal verkauft hat, feierte in diesem Jahr ihren 65. Geburtstag.
Die bis dato unbekannten Amerikanerinnen erzählen geschickt gebaute Geschichten aus der Vergangenheit, die aufgeladen sind von den Debatten und Themen unserer Gegenwart. Ihre Heldinnen sind eigensinnig und widerspenstig. Und ihre Leben werden so packend und bildhaft geschildert, dass man sie im Kopf gleich als Filmszenen mitdenkt und sich unweigerlich sogar über die schauspielerischen Idealbesetzungen Gedanken macht. Die „Flusskrebse“sind denn auch kürzlich im Kino mit Daisy Edgar-Jones in der Hauptrolle ein Hit geworden. Von „Eine Frage der Chemie“ist eine Serie bei Apple TV in Arbeit.
Wie kann es sein, dass diese Multimillionen-Erfolge scheinbar aus dem Nichts entstehen konnten? Geschrieben haben beide Autorinnen schon früh, aber nicht literarisch. Garmus arbeitete als Redakteurin für einen wissenschaftlichen Verlag und als Werbetexterin für technische und medizinische Themen. Weil ihr Mann beruflich umziehen musste, folgte sie ihm von Seattle nach Zürich und schließlich nach London. Dort besuchte sie einen Schreibkurs der renommierten Agentur Curtis Brown.
Das sind professionelle und teure Seminare, bei denen die hoffnungsvollsten Talente an den Buchmarkt herangeführt werden. Auf Garmus wurde die Literaturagentin Felicity Blunt aufmerksam. Sie ist ein Star der Branche, ihre Schwester ist die Hollywood-Schauspielerin Emily Blunt, ihr Ehemann arbeitet ebenfalls vor der Kamera: Es ist Stanley Tucci.
„Eine Frage der Chemie“spielt in den 50er- und 60er-Jahren. Es geht um Elizabeth Zott, eine alleinerziehende Mutter und brillante Forscherin, die versucht, in einer männlich dominierten Welt aufrecht zu bleiben. Es gelingt ihr zunächst nicht. Bonnie Garmus schildert Mobbing, das damals noch nicht so hieß, Sexismus und Gewalt. Sie fügt ihrer Heldin Schmerz zu, aber sie meint es am Ende gut mit ihr und dem Publikum. Denn auf jede Demütigung folgt rasch Wiedergutmachung. Man denke vor allem an die Szene, als Elizabeths Vergewaltiger ein Stechen in der Leiste spürt, an sich herunterblickt und sich wundert, warum da ein kleines Radiergummi aus der Haut schaut. Elizabeth hat ihm ihren gut angespitzten HB-Bleistift in den Körper gestoßen.
Ein TV-Mann wird auf Elizabeth aufmerksam, als sie ihn ermahnt, seine Tochter möge ihrer Tochter nicht immer das Pausenbrot wegessen. Elizabeth ist nämlich auch eine hervorragende Köchin, und so macht sie Karriere im Fernsehen, in der Sendung „Essen um sechs“. Das Buch trägt die „Me Too“-Debatte zurück durch die Zeit, Elizabeth wirkt wie eine Zeitgenossin, und ihre Show beendet sie stets mit dem Satz: „Kinder, deckt den Tisch, eure Mutter braucht einen Moment für sich.“
„Der Gesang der Flusskrebse“berichtet von Kya, einem Mädchen in Sümpfen North Carolinas. Es wird von der Mutter, den Geschwistern und schließlich vom saufenden Vater verlassen und schlägt sich alleine durch. Der Roman springt hin und her in der Zeit, spielt in den 50ern und späten 60ern und berichtet von einem Mord. Die Ermittlungen lassen den Schluss zu, dass Kya die Täterin sein könnte.
Das ist eine Geschichte von Erwachsenwerden, ein Krimi und außerdem Naturbeschreibung. Seitenlang besingt Delia Owens die Schönheit der Marschen und der Wildnis. Dieses in ersten Rezensionen mit „Huckleberry Finn“und „Wer die Nachtigall stört“verglichene
Buch bekam früh Unterstützung aus Hollywood: Die Schauspielerin Reese Witherspoon empfahl es in ihrem Leseclub „Hello Sunshine“. Und das Besondere an dem Text ist, dass man nie weiß, ob man sein Herz gerade an eine Mörderin verschenkt.
Delia Owens studierte Zoologie, ging dann mit ihrem Mann Mark Owens nach Botswana und in die Kalahari, um das Sozialverhalten und die Wanderbewegungen von Löwen und Hyänen zu erforschen. Sie veröffentlichte Sachbücher. 1995 wurde ein mutmaßlicher Wilddieb erschossen, als der Sender ABC gerade eine Doku über die Owens in ihrem Tierschutzprojekt in Sambia drehte. Die Tat wurde nie geklärt, das Opfer nicht identifiziert, und Delia Owens sagt, sie sei zum Tatzeitpunkt nicht anwesend gewesen. Im Jahr danach kehrten die Owens zurück in die USA. Einige Rezensenten arbeiteten die Parallelen zwischen der Mystery-Story im Buch und den Vorfällen in Afrika heraus.
Die beiden Debütromane eint, dass sie selbstbewusste Heldinnen in den Mittelpunkt stellen, die sich in menschenfeindlicher Umgebung bewähren. Es sind Geschichten über Selbstermächtigung und Widerständigkeit. Und, noch wichtiger: Man liest sie einfach gerne.