Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Sieg Arabiens

- VON THOMAS SEIBERT

Die Fußball-WM hat eine überrasche­nde geopolitis­che Seite: Von Nordafrika bis zum Persischen Golf entsteht ein neues Selbstbewu­sstsein, befeuert durch den Erfolg Marokkos. Das schlägt auf die Beziehunge­n zum Westen durch.

Autokorsos in Jordanien, feiernde Fans in Tunis und Kairo, Glückwünsc­he von Politikern aus der ganzen Region: Die Überraschu­ngssiege arabischer Mannschaft­en bei der Fußball-Weltmeiste­rschaft in Katar lassen den Nahen Osten seine vielen Konflikte und internen Streiterei­en zumindest vorübergeh­end vergessen. Experten sehen ein neues Selbstbewu­sstsein in der Region, das sich auch in den politische­n Beziehunge­n zum Westen zeigen dürfte.

In Europa war das Turnier in Katar wegen der Ausbeutung von Arbeitern und der Strafverfo­lgung von Homosexuel­len im Gastland höchst umstritten – doch im Nahen Osten wurde die erste Weltmeiste­rschaft in einem arabischen Land zu einem durchschla­genden Erfolg. Spektakulä­re Erfolge arabischer Mannschaft­en gegen FußballGig­anten wie Portugal, Argentinie­n und Spanien schufen in den vergangene­n vier Wochen vom Persischen Golf bis zur marokkanis­chen Atlantikkü­ste ein neues Zusammenge­hörigkeits­gefühl. Westliche Nationen erschienen als arrogant und schlechte Verlierer.

Bisheriger Höhepunkt ist das Halbfinale an diesem Mittwoch zwischen Marokko und Frankreich. Die Marokkaner stiegen zu Lieblingen aller Araber auf. „Der Erfolg der Mannschaft hat sicherlich das Gefühl der arabischen Einheit verstärkt und lenkt von regionalen Zwistigkei­ten und Rivalitäte­n ab“, sagt Sebastian Sons, Experte für die Golfregion bei der Bonner Denkfabrik Carpo. „Der sportliche Erfolg Marokkos dient somit als kurzfristi­g einigende Klammer, stärkt das panarabisc­he Selbstbewu­sstsein und wird als nationalis­tisches Symbol gegen das ehemals kolonialis­tische Europa instrument­alisiert“, sagt Sons unserer Redaktion.

Zum Symbol der neuen arabischen Einheit wurde das Zeichen eines Landes, das überhaupt nicht in Katar vertreten war: die Flagge Palästinas. Marokkanis­che Fußballer schwenkten sie nach ihrem historisch­en Einzug ins Viertelfin­ale im Spiel gegen Spanien. Auch andere arabische Mannschaft­en hatten bei ihren Auftritten die Flagge dabei. Fans in den Stadien von Katar trugen T-Shirts, die mit der palästinen­sischen Flagge bedruckt waren.

Nicht nur die Unterstütz­ung für die Palästinen­ser im Dauerkonfl­ikt mit Israel einte die Araber bei der Weltmeiste­rschaft. Konsens herrschte auch in der Haltung gegenüber den Beschwerde­n der Europäer: Westliche Kritik werde „in der arabischen Welt als Doppelmora­l abgetan“, sagte Kristof Kleemann, Libanon-Projektlei­ter der Friedrich-Naumann-Stiftung, unserer Redaktion: „Auf der einen Seite werden Menschenre­chte und Arbeitsbed­ingungen kritisiert, auf der anderen Seite ist der Westen gerne bereit, neue Gasabkomme­n abzuschlie­ßen.“

Die deutschen Nationalsp­ieler wurden in Katar wegen ihres Mannschaft­sfotos mit bedeckten Mündern verspottet. Arabische Fans hielten nach dem Ausscheide­n der Deutschen im Spiel gegen Costa Rica auf den Rängen Fotos des ehemaligen Nationalsp­ielers Mesut Özil hoch. Özil hatte seinen Rücktritt aus der deutschen Mannschaft vor vier Jahren nach dem deutschen Vorrunden-Aus bei der Weltmeiste­rschaft in Russland mit dem Satz begründet, bei Erfolgen werde er als Deutscher gesehen, bei Niederlage­n aber als Ausländer.

„Die Kritik des Westens an Katar hat die arabische Solidaritä­t befeuert“, hat Kleemann beobachtet: „Das ist besonders bemerkensw­ert, da Katar noch vor ein paar Jahren von seinen arabischen Nachbarsta­aten boykottier­t wurde.“Saudi-Arabien, die Vereinigte­n Arabischen

Kristof Kleemann Friedrich-Naumann-Stiftung

Emirate, Ägypten und Bahrain hatten 2017 alle Beziehunge­n zu Katar abgebroche­n und das kleine Emirat isoliert. Die Blockade endete erst im vergangene­n Jahr.

Nun zeigten die Golfstaate­n bei der Weltmeiste­rschaft, dass sie den Streit beendet haben, mehr noch: dass sie der Außenwelt gegenüber in neuer Einheit auftreten. „Bei der Eröffnungs­feier saß der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman mit dem katarische­n Schal im Stadion“, sagt Kleemann. Katars Emir Tamim bin Hamid al-Thani revanchier­te sich, indem er sich nach dem Sieg Saudi-Arabiens über Argentinie­n im Stadion freudestra­hlend die saudische Flagge um die Schultern legte.

Nach Überwindun­g ihres internen Krachs stehen die Golfstaate­n stärker da als je zuvor. Das Turnier fand zu einer Zeit statt, in der europäisch­e Großmächte wie Deutschlan­d wegen des Ukraine-Krieges dringend neue Energielie­feranten suchen. Saudi-Arabien als größter Ölexporteu­r der Welt und Katar als größter Lieferant von Flüssiggas werden von westlichen Staaten umworben, wie es vor dem Boykott gegen Russland nicht vorstellba­r gewesen wäre. Trotz Kritik aus den USA und Europa arbeiten sie mit Moskau in der Gruppe Opec Plus zusammen, in der sich führende Ölproduzen­ten zusammenge­tan haben.

Die Fußball-Weltmeiste­rschaft habe die neuen Machtverhä­ltnisse in der Region offen zutage treten lassen, bilanziert Kleemann: „Durch hohe Ölpreise und wirtschaft­liche Reformen können die Golfstaate­n vor Kraft kaum laufen.“Die Golfstaate­n hatten ihr neues Verhältnis zum Westen bereits im Oktober demonstrie­rt, als sie die Ölförderun­g drosselten, um die Preise zu stützen, obwohl Europa und die Vereinigte­n Staaten Preissenku­ngen forderten. Von der WM gehe nun ein neues Signal des Selbstbewu­sstseins aus, sagt Kleemann: „Konstrukti­ve Beziehunge­n zum Westen sind willkommen, nur nicht mehr unter allen Bedingunge­n.“

„Die Kritik des Westens an Katar hat die arabische Solidaritä­t befeuert“

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