Rheinische Post - Xanten and Moers
Neues Kennenlernen in der Krise
Die EU- und Asean-Staaten versuchen einen wirtschaftlichen und strategischen Schulterschluss.
BRÜSSEL Zehn gelbe Reisrispen und zwölf goldene Sterne – eine ungewohnte Farbkombination empfängt die Staats- und Regierungschefs an diesem Mittwoch im Brüsseler Ratsgebäude. Es sind die Flaggen der EU und des Asean-Staatenbundes. Eigentlich geht es um ein Jubiläumstreffen zum 45-jährigen Bestehen diplomatischer Beziehungen. Doch eine solche Präsenz nahezu aller Hauptverantwortlichen ist eine Premiere. Die einen suchen nach mehr Verbündeten angesichts der russischen Aggression, die anderen angesichts des Drucks Chinas im Indopazifik.
„Wir müssen mehr liefern“, meint EU-Außenbeauftragter Josep Borrell kurz vor Beginn. Australien und Neuseeland haben gezeigt, wie man mit den Asean-Staaten ein Handelsabkommen zügig zustande bringt. Die EU hat bislang nur eines mit Singapur und eines mit Vietnam, die Verhandlungen mit Indonesien, Thailand, Malaysia und den Philippinen laufen seit einem Jahrzehnt und kommen nicht voran. Dabei hätten die 450 Millionen Europäer und die 660 Millionen Asiaten von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum viele Vorteile.
Die Vorstellung von einer Ära, in der sich alles um die USA und China drehe, gehe an der Wirklichkeit vorbei, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz am Morgen im Bundestag. Am Nachmittag ist er in doppelter Funktion unterwegs: Weil Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum Spiel seiner Nationalmannschaft nach Katar jettet, lässt er sich in Brüssel von Scholz vertreten.
Am Mittwoch geht es erst einmal um das Ausloten besserer wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Europa und Südostasien. Das ist wichtiger geworden in Zeiten eines sich zuspitzenden Konfliktes zwischen den USA und China sowie der US-Inflationsbekämpfung auf Kosten Europas.
Den gigantischen Seidenstraßen-Projekten Chinas stellt die EU ihr „Tor zur Welt“-Programm entgegen. Zehn Milliarden daraus sollen nun in die Asean-Länder gehen. Zudem wollen beide Seiten mit einem Aktionsplan versuchen, das jeweilige Verständnis von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und nachhaltiger Produktion anzugleichen. Bei den Investitionen ist unter anderem an Stromnetze und die digitale Infrastruktur gedacht.
Daneben gewinnt die strategische Sicherheitspartnerschaft EU-Asean größere Bedeutung. Bei der Verurteilung von Russlands Angriffskrieg hatte sich in der Vergangenheit nur Singapur der Sicht Europas angeschlossen und die Sanktionen mitgetragen. Beim Gipfel versuchen die EU-Gastgeber in Brüssel ihren Gesprächspartnern näherzubringen, warum der Krieg gegen die Ukraine nicht nur eine europäische Angelegenheit sei, sondern alle angehe.
Zwar erklärt Asean-Chef Samdech Techo Hun Sen in Brüssel, eine regelbasierte internationale Ordnung solle offen, transparent und „für beide Seiten von Vorteil“sein. Doch bei der Verurteilung des russischen Angriffskrieges ist der kambodschanische Regierungschef noch zurückhaltend und bevorzugt stattdessen das Eintreten für eine „friedliche Konfliktbeilegung durch Dialog“. Die Asean-Staaten bemühen sich jedenfalls, in ihrer eigenen Region Chinas Drohungen gegen Taiwan abzuschwächen und Peking auf eine Sicherheitspolitik auf Grundlage des Völkerrechtes zu verpflichten. Machtpolitiker, deren europäischer und sicherheitspolitischer Horizont kaum über den eines Dorfpolizisten hinausreicht. Denn Anlass für dieses Veto sind allein die drei Regionalwahlen im Frühjahr, bei denen die ÖVP ihren dramatischen Sinkflug nach dem Kurz-Abgang einmal mehr mit einer „harten Ausländerpolitik“stoppen will. Dafür scheint es sich zu lohnen, Österreich zum Gespött Europas zu machen und es innerhalb der EU zu isolieren. Seit 20 Jahren stellt die ÖVP die Innenminister, hätte also längst ein Konzept für kontrollierte Zuwanderung vorlegen können, die mittlerweile die Wirtschaft dringlich einfordert. Stattdessen wird immer kurz vor Wahlen das Migrationsthema emotional hochgekocht.
Dazu passt, dass die Regierung wenige Tage vor dem Innenministertreffen vorige Woche ihr Schengen-Veto bekannt gemacht hatte. Ein Dialog mit der EU-Kommission wurde bloß vorgetäuscht, der Beschluss war längst gefasst: Zuerst müssten die Außengrenzen des Schengen-Raums besser kontrolliert werden, bevor man ein „gescheitertes System vergrößert“, so Karner. Warum Österreich für den Beitritt Kroatiens stimmte, das ursprünglich auf der Veto-Liste stand, aber jenen Rumäniens und Bulgariens weiterhin ablehnt, ist ein weiterer Beleg für eine eher dilettantische, undurchdachte Vorgangsweise.
Nun zeigt sich die Wiener Regierung über die möglichen wirtschaftlichen Folgen und politischen Spannungen völlig überrascht. Als wüsste man im Kanzleramt nicht, dass Österreich in Osteuropa einen guten Ruf zu verlieren hat, nicht zuletzt als führender Investor. Rumänien fühlt sich von Wien „gedemütigt“und berief seinen Wiener Botschafter ab; als „Mitglied zweiter Klasse“fühlt sich auch Bulgarien. Es gibt in beiden Ländern bereits Boykottaufrufe gegen österreichische Importe. Das kann sich zu einer Welle ausbreiten, zumal es in Südosteuropa kaum eine Stadt ohne Billa-Supermarktfiliale oder eine Niederlassung der Raiffeisenbank gibt. Wirtschaftsvertreter sorgen sich bereits um ihre erfolgreichen Absatzmärkte, die Milliardengewinne abwerfen.
Doch Nehammer gibt sich uneinsichtig. Jüngst im TV-Interview auf die Konsequenzen des SchengenDesasters angesprochen, stellte der Kanzler scheinbar schlagfertig die Gegenfrage: „Welche Konsequenzen?“Ist das Machtzynismus oder Ahnungslosigkeit? Eher sehen politische Beobachter Nehammer als Kanzler schlicht überfordert.