Rheinische Post - Xanten and Moers
„Ältere müssen bessere Chancen bekommen“
Der Bundesarbeitsminister erklärt, wie er die hohe Zahl der Frührentner reduzieren und das Rentenniveau stabilisieren will.
Herr Heil, als einziger Minister blieben Sie nach dem Regierungswechsel im Amt. Was hat sich für Sie in der Ampel im Vergleich zur Groko geändert?
HEIL Menschlich konnte ich mich auch über die Zusammenarbeit mit der Vorgängerregierung nicht beklagen. Aber spürbar ist jetzt, dass in der Ampel drei Parteien zusammenarbeiten, die das Land modernisieren und Dinge anpacken und verändern wollen. Das ist ein Unterschied zur Union, die am Ende nichts mehr verändern wollte. Es ist mehr Gestaltungskraft in dieser von Olaf Scholz geführten Regierung.
Dann sprechen wir über die Gestaltungskraft bei der Rente. Der Kanzler sorgt sich über die hohe Zahl der Frührentner. Aber war es nicht die SPD, die die Rente mit 63 durchgesetzt hat? War sie ein Fehler?
HEIL Nein. Der Kanzler hat recht, dass es unser Ziel sein muss, dass möglichst viele Beschäftigte bis zur gesetzlichen Altersgrenze arbeiten können. Viele erreichen diese Grenze aus gesundheitlichen Gründen nicht. Da müssen wir mit gesunden Arbeitsbedingungen und Prävention gegensteuern. Darum geht es, und nicht darum, den Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, die abschlagsfreie Rente zu streichen. Wir reden dabei ja über Pflegekräfte oder Handwerker, die seit ihrem 16. Lebensjahr hart arbeiten. Und viele vergessen, dass auch für diese Menschen das gesetzliche Renteneintrittsalter sukzessive ansteigt. Wenn der Geburtsjahrgang 1964 erreicht ist, gibt es die abschlagsfreie Rente nach 45 Jahren erst mit 65.
Das wird erst 2029 sein. Vorher wollen Sie die Rente mit 63 nicht stoppen?
HEIL Nein, wir werden die Möglichkeit, nach 45 Jahren ohne Abschläge in Rente zu gehen, auf keinen Fall stoppen! Es gibt Leute, die können länger arbeiten, und für die haben wir jetzt die Hinzuverdienstgrenzen abgeschafft und somit mehr Flexibilität geschaffen. Aber andere, die können eben nicht länger arbeiten, etwa wenn sie körperlich anstrengende Berufe ausgeübt haben. Wie gesagt, der Kanzler hat vollkommen recht: Wir müssen das reale Renteneintrittsalter steigern. Da sind wir schon gut vorangekommen.
Wirklich? Das durchschnittliche Renteneintrittsalter stagniert seit über fünf Jahren bei 64 Jahren, auch wegen der Rente mit 63.
HEIL Aber der Anteil derer, die zwischen 60 und 64 noch beschäftigt sind, ist seit dem Jahr 2000 von 20 auf heute über 60 Prozent gestiegen. Wenn wir diese Quote auf 70 Prozent steigern, haben wir 700.000 Fachkräfte mehr bis zum Jahr 2030. Deshalb tun wir mehr bei Qualifizierung und der gesundheitlichen Prävention, um dem Anstieg psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt entgegenzuwirken. Und ältere Beschäftigte müssen bessere Chancen am Arbeitsmarkt bekommen. Viele Arbeitgeber stellen Menschen über 60 nicht mehr ein. Das ist eine Haltung, die wir uns nicht mehr leisten können.
Noch einmal: Durch die Rente mit 63 hat der Arbeitsmarkt zwei Millionen Fachkräfte vorzeitig verloren, etwa 400.000 mehr als die Bundesregierung geschätzt hatte. Haben Sie sich verschätzt?
HEIL Einspruch. Wir haben heute rund fünf Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor zehn Jahren prognostiziert. Deshalb konnten und können wir die nächsten Jahre den Rentenbeitrag so lange auf niedrigem Niveau belassen. Um die Rentenfinanzen stabil zu halten, müssen wir auf dem Arbeitsmarkt unsere Hausaufgaben machen und etwa die Frauenerwerbsbeteiligung steigern. Wenn es durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt, das Arbeitsvolumen von Frauen in Teilzeit nur um zehn Prozent zu erhöhen, haben wir 400.000 Fachkräfte mehr, und das ist auch gut für die Rentenfinanzen.
Wenn ich den Kanzler richtig verstehe, hinterfragt er auch die Anreize: Viele nutzen die Chancen für den vorgezogenen Ruhestand, die es bisher gibt, weil sie es wollen. HEIL Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass wir das gesetzliche und das reale Renteneintrittsalter angleichen müssen. Der Schlüssel liegt in mehr und besseren Beschäftigungsmöglichkeiten für Ältere und in einer besseren Gesundheitsförderung. Manchmal helfen schon die kleinen Dinge. Einen Friseur mit Rückenschmerzen kann zum Beispiel schon ein Muskelaufbautraining von seinem Leiden befreien. Für eine Bankkauffrau können wiederum Maßnahmen zur Stressbewältigung das Mittel der Wahl sein. Diese präventiven Maßnahmen verhindern, dass Menschen krankheitsbedingt aufhören müssen, zu arbeiten. Hier bietet die Deutsche Rentenversicherung heute schon viele Hilfen an.
Es nehmen aber auch sehr viele Abschläge in Kauf, um vorzeitig vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente zu gehen. Warum erhöhen
Sie nicht einfach die Abschläge? HEIL Die Abschläge sind mit minus 0,3 Prozent pro Monat des vorzeitigen Ruhestands schon ziemlich hart. Wenn man die in Kauf nimmt, ist das eine persönliche Entscheidung,
die abhängig ist von der Lebenssituation. Das wird so bleiben.
Brauchen wir die weitere Erhöhung des Rentenalters ab 2031?
HEIL Das Rentenalter noch weiter auf 69, 70 oder 75 zu erhöhen, ist falsch und unfair, denn das würde eine reale Rentenkürzung für viele Menschen bedeuten, die einfach nicht so lange arbeiten können. Das würde zulasten der jüngeren Generation gehen, die nach den Babyboomern in Rente geht. Das will ich nicht, und das hat die Ampel im Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Das gesetzliche Rentenalter ist im internationalen Vergleich mit 67 Jahren ab 2031 schon sehr hoch. Wir setzen stattdessen auf flexible Übergänge in den Ruhestand. Das ist vernünftig und fair.
Im Januar wollen Sie ein Rentenpaket vorlegen. Was dürfen sich die Bürger davon erwarten?
HEIL Es geht um stabile Renten und eine solide Finanzierung. Auch die junge Generation soll sich auf die gesetzliche Rente in Zukunft verlassen können. Deshalb werden wir das Rentenniveau dauerhaft sichern, also auch für die Zeit ab 2025. Und wir werden die Beitragsentwicklung vor allem in den 2030er-Jahren abpuffern durch den Aufbau eines Kapitalstocks für die Rentenversicherung. Das sind die beiden Elemente des Rentenpakets II.
Aber der anfängliche Kapitalstock für die geplante Aktienrente ist mit zehn Milliarden Euro lächerlich gering. Wie soll sie je helfen, den drohenden Beitragsanstieg zu verhindern?
HEIL Wir fangen mit zehn Milliarden Euro Startkapital an. Der Finanzminister sieht größere Spielräume und will den Kapitalstock perspektivisch deutlich erhöhen. Das geht grundsätzlich in die richtige Richtung, weil wir dann mit den Erträgen aus dem Kapitalstock in den 2030er-Jahren auch die Beiträge stabilisieren. Aber die entscheidende Schlacht für die Zukunft der Rente wird am Arbeitsmarkt geschlagen. Neben der Mobilisierung inländischer Gruppen brauchen wir viel mehr qualifizierte Zuwanderung. Fachkräftesicherung ist also auch Rentensicherung.
Ihr Koalitionspartner, FDP-Chef und Bundesfinanzminister Lindner, sagt, die Ära des Verteilens sei vorbei. Finden Sie das auch?
HEIL Die Bundesregierung setzt auf wirtschaftliche Modernisierung, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. So sichern wir langfristig Wohlstand und Arbeitsplätze. Gleichzeitig sorgen wir für sozialen Fortschritt, also eine gerechtere Verteilung von Chancen und Lasten in der Gesellschaft.