Rheinische Post - Xanten and Moers

Der Rabbi von Dnipro

Die Ukraine ist die Heimat einer der größten jüdischen Gemeinden der Welt – und auch sie ist durch den Krieg bedroht, den Wladimir Putin im Februar begonnen hat. Ein Besuch im Südosten des Landes.

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Blut“gehabt – und zog mit dem Kommentar internatio­nale Empörung auf sich. Putins Armee bombardier­t ukrainisch­e Holocaust-Gedenkstät­ten wie Drobyzkyj Jar oder Babyn Jar. Ramsan Kadyrow, der Präsident der russischen Teilrepubl­ik Tschetsche­nien, nannte Juden 2019 während einer Ansprache im Fernsehen „Feinde des Islam“. Putin beförderte ihn kürzlich zum Generalobe­rst. Kadyrows Soldaten kämpfen auch in der Ukraine.

Die jüdische Geschichte der Ukraine ist von einem Gesetz aus dem Zarenreich beeinfluss­t: Vom späten 18. Jahrhunder­t bis ins frühe 20. Jahrhunder­t durften jüdische Familien nur im sogenannte­n Ansiedlung­srayon wohnen und arbeiten. Das war ein Gebiet im Westen des Zarenreich­es, das sich von der Schwarzmee­rküste bis zur Ostsee erstreckte und das große Teile der Ukraine, Teile Polens und Lettlands und das heutige Belarus, Litauen und Moldau umfasste. Es ist auch Teil des Gebietes, das der Historiker Timothy Snyder nach dem Holocaust und Stalins Terror als „Bloodlands“beschreibt.

In der ukrainisch­en Geschichte wurden Juden vor allem dann verfolgt, wenn die Ukraine unter fremder Kontrolle war: Sowohl im Zarenreich als auch in der sowjetisch­en Ukraine wurden Juden staatlich diskrimini­ert. Im „Holocaust durch Kugeln“töteten deutsche Soldaten und ihre lokalen Helfer etwa 1,5 Millionen Juden in der besetzen Ukraine. Jetzt kämpfen jüdische Soldaten in der ukrainisch­en Armee für die Unabhängig­keit des Landes und gegen die russischen Angreifer.

Rabbi Mayer Stambler erinnert sich an die ersten Tage des russischen Überfalls auf die Ukraine; an seinen ersten Schabbat im Krieg. Als Chaos herrschte und die russischen Truppen immer näherkamen, als er abwägen musste, ob es zu gefährlich ist, in die Synagoge zu gehen. Auf dem Weg zur Synagoge würden die Checkpoint­s noch ukrainisch sein, erinnert sich Mayer Stambler. „Aber auf dem Weg zurück, ich wusste nicht, wer da stehen würde. Und wie würden sie einen Juden behandeln, mit einem Bart und einem Hut? Ich wusste es nicht“, erzählt er.

Die russischen Truppen haben es nicht nach Dnipro geschafft. Aber die ersten Tage der Invasion, so Mayer Stambler, waren Tage mit schweren Entscheidu­ngen: Sollten er und seine Familie in der Ukraine bleiben, auch wenn der Krieg rund um Europas größtes Atomkraftw­erk tobt, der Luftalarm heult und Raketen in der Stadt einschlage­n? Was bedeutet es für seine Gemeinde, wenn der Rabbi mit seiner Familie flieht?

Mayer Stamblers Familie kommt aus der Ukraine. Sein Vater war von dort in die USA ausgewande­rt, er selbst ist in den USA und Israel aufgewachs­en und später als Emissär der orthodoxen Chabad-Bewegung nach Dnipro gezogen. Seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar können ukrainisch­e Männer im wehrfähige­n Alter nicht mehr einfach das Land verlassen. Mit seinem israelisch­en oder mit seinem US-Pass, so Mayer Stambler, wäre das kein Problem gewesen: „Ich kann gehen. Aber wir bleiben. Das ist wichtig. Wir fühlen, dass die Leute das wertschätz­en. Es gibt ihnen Hoffnung. Wir glauben an dieses Land und daran, dass wir auf der richtigen Seite stehen.“

In seinem Büro erinnert sich der Rabbi daran, wie die Kämpfe rund um das Atomkraftw­erk im Süden heftiger wurden – und die Plätze in den Bussen zur Evakuierun­g aus der Stadt knapper. Wie er seine Familie in den Bus gesetzt hat und selbst geblieben ist. Es war ein Freitag und das erste Mal, dass seine Frau am Abend nicht die Kerzen des Schabbats anzünden konnte. „Es hat sich angefühlt wie Schindlers Liste“, erzählt Mayer Stambler: „Ich habe mich gefragt: Was mache ich hier? Ich schicke meine eigene Familie weg, und andere müssen hierbleibe­n? Ist das richtig? Ich werde das Gefühl niemals vergessen.“

Seit dieser Zeit hat er vor allem gearbeitet. In einem Zimmer neben seinem Büro sitzt ein junges Team vor Computerbi­ldschirmen und telefonier­t – sie koordinier­en die Lieferunge­n von Lebensmitt­elpaketen, Krankentra­nsporte und Evakuierun­gen. Um der jüdischen Community in der Ukraine zu helfen, sagt Mayer Stambler, nutzt er Listen und Kontakte, die für Hilfe in der CoronaPand­emie angelegt wurden. Von 30.000 Menschen zu Beginn der Invasion sei seine Liste nun auf knapp 50.000 Menschen gewachsen. „Mr. Selenskyj hat gesagt, dass jeder seine eigene Front hat. Ich weiß nicht, wie man eine Pistole hält. Es ist nicht mein Gebiet. Aber ich fühle, dass ich im Krieg bin. Es ist ein Krieg, um den Leuten zu helfen, zu überleben“, sagt er.

Auf dem Weg zu seinem Logistikze­ntrum spricht Mayer Stambler über Deutschlan­ds Geschichte, die zögerliche Haltung der Bundesregi­erung in diesem Krieg, das schwierige historisch­e Verhältnis zu Russland.

„Ich glaube, nach Butscha hat die Welt gesehen, was passiert, und die Menschen verstehen, wer der Faschist unserer Generation ist“, sagt Mayer Stambler: „Das Problem ist, dass die Welt Zeit braucht, um das anzuerkenn­en. Aber wir haben keine Zeit, das ist das Problem. Die Ukraine braucht die Hilfe schnell.“

Das Logistikze­ntrum ist in der Lagerhalle einer Möbelfirma untergebra­cht. Ein Geschäftsm­ann aus der jüdischen Gemeinde stellt es dem Rabbi zur Verfügung. „Bomboschow­ytsche“steht auf einem Schild am Tor, die Lagerhalle ist gleichzeit­ig auch ein Luftschutz­raum für die Bevölkerun­g.

Drinnen ist das „Ratsch“-Geräusch von Klebeband ist zu hören, das Rascheln von Verpackung­en und die Stimmen von etwa zehn Mitarbeite­nden. An einem Fließband, mit weißen Mützen mit dem Logo der Jüdischen Gemeinden der Ukraine stehen sie und sortieren Lebensmitt­el in Kartons, die in etwa so groß sind wie die L-Pakete der Deutschen Post. Im Schichtsys­tem, 24 Stunden am Tag, erzählt Mayer Stambler, verpacken sie hier koschere Lebensmitt­el, Nudeln, Reis, Zucker, Konserven und Hygienepro­dukte. Drei bis vier Lastwagen verlassen das Depot täglich, bringen die Pakete zu rund 160 jüdischen Gemeinden in der ganzen Ukraine. Lokale Mitarbeite­r verteilen sie von dort aus weiter, vor allem an „ältere Menschen, Holocaust-Überlebend­e, oder Menschen die gerade arm sind“, so Mayer Stambler. Drei Pakete, so der Rabbi, kosten um die 100 Dollar: „Das sind gute Sachen, wir wollen, dass sie fühlen, dass sie uns wichtig sind.“Die Aktion finanziert sich über Spenden aus den USA und aus Europa.

Ein paar Monate nach dem Besuch im Warenhaus meldet sich Mayer Stambler noch mal per Telefon. Er ist immer noch in Dnipro. Vor ein paar Tagen ist eine Rakete etwa 600 Meter von seinem Haus entfernt eingeschla­gen, erzählt er. Über Whatsapp schickt er Bilder von dem Haus, von dem zwei Stockwerke abgerissen sind. Verbogener Stahl, zerfetzte Dächer, zerbrochen­e Scheiben in der Nachbarsch­aft. In der vergangene­n Woche war er in Butscha, Irpin und Hostomel, erzählt er. Er wollte die Menschen treffen, denen sie Essen schicken. „Die Situation wird nicht besser, tatsächlic­h wird sie schlechter“, so der Rabbi.

Im Herbst hat die ukrainisch­e Armee viele Gebiete im Norden des Landes zurückerob­ert, die über Monate von russischen Truppen besetzt waren. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde, so Mayer Stambler, seien schon vor der russischen Besatzung von dort geflohen. Aber ein paar Hundert Familien seien geblieben – und auch diese stehen jetzt auf seiner Liste derer, die Hilfe brauchen. Und diese auch bekommen.

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FOTO:SALWAM GEORGES/GETTY IMAGES Die Synagoge in Dnipro ist ein Zentrum jüdischen Lebens in der Ukraine.
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