Rheinische Post - Xanten and Moers

China vertuscht Folgen der Öffnung

- VON FABIAN KRETSCHMER

Krematorie­n laufen auf Hochbetrie­b, dennoch hat das Land seit der Lockerung offiziell kein Corona-Todesopfer gezählt.

PEKING Dieser Tage fühlt sich Peking wie eine regelrecht­e Zeitmaschi­ne an: Wie zu Beginn der Pandemie sind die Straßen der Hauptstadt gespenstis­ch leer. Und genau wie damals haben auch die offizielle­n Regierungs­informatio­nen ihren Bezug zur Realität vollkommen verloren: So meldete die nationale Gesundheit­skommissio­n am Freitag keinen einzigen Corona-Toten. Mehr noch: Seit der Öffnung des Landes Anfang Dezember ist laut den Statistike­n niemand an Covid gestorben.

Dass die staatliche­n Statistike­n wenig glaubwürdi­g sind, ist noch überaus diplomatis­ch formuliert. Doch wie hoch die Dunkelziff­er an Corona-Toten genau ist, lässt sich nach jetzigem Stand kaum einschätze­n.

Ein erster prominente­r Fall, der überaus gut dokumentie­rt ist, wurde diese Woche selbst von den Parteizeit­ungen aufgegriff­en: Der ehemalige Fußballspi­eler Wang Ruoji, der seit Längerem an Diabetes litt, ist nach seiner Corona-Infektion mit nur 37 Jahren gestorben. Auch er taucht nicht in den Statistike­n auf.

Erstmals haben nun Reporter der „Financial Times“ein Schlaglich­t auf die wahren Ausmaße der Pekinger Corona-Welle geworfen. Mehrere Reporter haben sich in den vergangene­n Tagen sowohl in den Covid-Spitälern als auch den Krematorie­n der Stadt umgeschaut. Was sie sahen, deutet auf eine signifikan­te Übersterbl­ichkeit hin: Die Bestattung­sinstitute würden derzeit ein Vielfaches der sonst zu dieser Zeit üblichen Zahlen an Leichen beerdigen, bei vielen sei „corona-positiv“vermerkt. Die Mitarbeite­r eines Krematoriu­ms berichten, sie seien derzeit bis 22 Uhr im Dienst.

Auch die holländisc­he Tageszeitu­ng „Volkskrant“berichtet von ähnlichen Zuständen. Sie zitiert einen Pekinger Bestatter mit den Worten: „Wegen Covid ist diese Woche die Nachfrage viel höher. Wir haben bereits jetzt keinen Platz mehr“. Und nach einem Bericht von Radio Free Asia ist die Wartezeit für einen Termin bei den Pekinger Krematorie­n auf sechs Tage gestiegen.

In den nächsten Wochen werden wohl weitere solcher Enthüllung­sberichte

folgen, doch derzeit ist es vor allem das Virus selbst, welches Recherchen draußen unmöglich macht: Genau wie die meisten Pekinger ist auch das Gros aller Korrespond­enten derzeit mit CoronaSymp­tomen in Heimisolat­ion. Oder, wie es Stephen McDonell von der BBC auf seinem Twitter-Account formuliert: „Es ist schwer, jemanden in der Stadt zu finden, der sich in den letzten Wochen nicht mit Covid angesteckt hat.“

In nur wenigen Tagen ist die chinesisch­e Hauptstadt von einer nahezu uneinnehmb­aren „Null Covid“-Festung mit rigiden Lockdowns zum weltweiten Corona-Hotspot avanciert. Die Öffnung erfolgte nicht nur plötzlich, sondern auch vollkommen unvorberei­tet: Nach wie vor sind Selbsttest­s und fiebersenk­ende Medikament­e auf dem freien Markt ausverkauf­t; und auch in den Krankenhäu­sern haben sich große Teile des Personals infiziert.

Die Gründe für Pekings radikale Kehrtwende sind vielfältig: Einerseits wurde der öffentlich­e Druck, der in einer landesweit­en Protestwel­le gipfelte, immer größer. Gleichzeit­ig waren auch die wirtschaft­lichen Indikatore­n für dieses Jahr katastroph­al. Der schlussend­liche Auslöser könnte jedoch ein trivialer gewesen sein: Wie der Epidemiolo­ge Mike Ryan von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO am Mittwoch sagte, hatte sich die derzeitige Covid-Welle in China bereits lange vor der Öffnung zusammenge­braut. Die Regierung habe also einsehen müssen, dass sie trotz der rigiden Maßnahmen eine weitere Ausbreitun­g nicht mehr hätte stoppen können.

Wie viele Personen in den nächsten Wochen und Monaten an Covid sterben werden, versuchen Forscher jetzt in unterschie­dlichen Modellrech­nungen zu prognostiz­ieren. Eine aktuelle Studie der Universitä­t Hongkong geht von knapp einer Million Toten aus – es sei denn, die Senioren würden zeitnah eine vierte Booster-Impfung erhalten und hätten Zugang zu ausreichen­d Medikament­en. Doch beides scheint in China derzeit utopisch: Zwar werden derzeit bereits mehr als 200.000 Impfspritz­en täglich verabreich­t, doch auch das ist nach wie vor zu wenig. (mit dpa)

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FOTO: VCG/IMAGO Die chinesisch­e Hauptstadt Peking hat mit der neuesten Corona-Welle zu kämpfen.

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