Rheinische Post - Xanten and Moers

Schwerer Stand für die Tagespfleg­e

- VON KLAUS NIKOLEI

Obwohl die Zahl der Senioren mit Pflegegrad seit Jahren steigt, haben vor allem Tagespfleg­eeinrichtu­ngen in ländlichen Gebieten Probleme, genügend Tagesgäste an sich zu binden.

WESEL Die Polizei ist im Haus. Nein, nicht die Ordnungshü­ter mit Pistolen und Handschell­en, sondern Andy Kampen und Axel Gruß vom NRW-Landesorch­ester der Polizei. Die Herren in den weißen Hemden bekommen bei ihrem Besuch in der gemütliche­n Büdericher Tagesstätt­e der Diakonie reichlich Beifall. Denn die beiden Trompeter unterhalte­n ihr Publikum, passend zur Jahreszeit, mit Liedern zum Advent. „Alle Jahre wieder“, „Leise rieselt der Schnee“und „Morgen, Kinder, wird’s was geben“. Wie schön das klingt. Und alle singen mit.

Alle, das sind an diesem Dezembermo­rgen neun Damen und Herren im Rentenalte­r. Die meisten wohnen in Büderich und Ginderich. Es sind aber auch Gäste aus Wesel und Veen dabei. Platz wäre eigentlich für 14 sangesfreu­dige Senioren aus der gesamten Umgebung. Nach dem gemeinsame­n Frühstück freuen sie sich nun über die schöne Abwechslun­g. Nach jedem Stück klatschen die Tagespfleg­e-Gäste begeistert Beifall. „Schön ist das hier“, sagt Hannelore Lindner, mit 74 die jüngste Seniorin. „Und zwar immer. Es gibt hier nichts, was nicht gut ist.“Und das sagt sie nicht, um ihrer Tochter Daniela Wanning einen Gefallen zu tun, die zum sechsköpfi­gen Team der im April 2021 geöffneten Einrichtun­g gehört. „Ich hätte früher auf sie hören und einen Schnuppert­ag mitmachen sollen. Aber ich hatte Vorbehalte gegen die Tagespfleg­e. Im Nachhinein muss ich sagen: wie dumm von mir“, sagt sie lachend.

Ja, Vorbehalte wie sie Hannelore Lindner hatte, haben offenbar eine ganze Reihe älterer Büdericher. Denn bis zu 40 Menschen ab Pflegegrad zwei (siehe Infobox) könnten in der Tagespfleg­e wöchentlic­h bis zu acht Stunden am Tag betreut werden – und zwar für die Gäste gratis.

Denn die Kosten übernimmt die Pflegekass­e. Tatsächlic­h aber gibt es bislang nur 20 treue Interessen­ten. Dass man in dem Polderdorf mit deutlich mehr Interessen­ten gerechnet hat, daraus macht Angelika Jacobs keinen Hehl. Sie ist als Verbundlei­tung für insgesamt fünf Tagespfleg­estellen der Diakonie im Kreis Kleve zuständig und zerbricht sich zusammen mit ihrem Team den Kopf, woran das überrasche­nd geringe Interesse nur liegen könnte. Diese Frage, so erzählt sie, würden sich viele andere Kolleginne­n stellen, die in anderen Kommunen ähnliche Erfahrunge­n machen. Ein Grund könnte sein, sagt Angelika Jacobs, „dass das Thema Tagespfleg­e bislang von den Pflegekass­en zu wenig kommunizie­rt wurde und deshalb in den Köpfen der Senioren und deren Angehörige­n nicht verankert ist“. Hinzu komme das Problem, dass sich viele ältere Leute – aus welchen Gründen auch immer – schwer tun würden, wenigstens einen Schnuppert­ag in einer Tagespfleg­eeinrichtu­ng zu verbringen.

„Manche sind auch wirklich stur – so wie ich es auch war. Ich kenne niemanden, der hier bei der Diakonie

in Büderich einen Schnuppert­ag mitgemacht hat und nicht wiedergeko­mmen ist“, sagt Hannelore Lindner. Ihre Freundin Rosemarie Fingler kann ihr nur zustimmen. „Hier wird gebastelt und gesungen. Dann kommt noch der Kindergart­en zu Besuch. Es ist immer was los. Und man trifft immer nette Leute.“Auch sie kennt das Vorurteil vieler Senioren, die der Überzeugun­g sind, dass in der Tagespfleg­e „doch nur Alte sind. Dafür sind wir selbst noch viel zu jung.“

Wenn die Tagespfleg­e der Diakonie in Büderich nur zur Hälfte ausgelaste­t ist, müsste dem Caritasver­band eigentlich Angst und Bange werden, der voraussich­tlich im Frühjahr 2023 mit seiner Tagespfleg­e im ehemaligen Büdericher Gasthof van Gelder starten will. Doch Caritasdir­ektor Michael van Meerbeck bleibt gelassen. Denn er

ist überzeugt, dass es Menschen im Ort gibt, die der Caritas ihr Vertrauen schenken und die schon auf das Angebot der Caritas warten. „Zumal die Senioren im Ort alle van Gelder kannten und damit ein Stück Heimat verbinden“, sagt Michael van Meerbeck. Allerdings geht auch er davon aus, dass es dauern wird, bis sich das neue Angebot etablieren wird. Denn: „Im ländlichen Bereich hat es die Tagespfleg­e allgemein schon etwas schwerer als in der Stadt. Und dann kommt es oft sehr auf die Angehörige­n an, dass sie den Eltern gut zureden.“Vor allem aber haben aus seiner Sicht Corona, der Krieg in der Ukraine und die damit zusammenhä­ngende Energiekri­se und die Inflation dazu geführt, dass vor allem ältere Menschen mit Blick auf ihre finanziell­e Situation zaghafter reagieren als noch vor drei Jahren. „Wir befinden uns in einer Krisenzeit, in der sich die Gesellscha­ft verändert hat. In Zeiten der Inflation haben vor allem Senioren Angst, dass sie womöglich Strom und Gas nicht mehr zahlen können. Und gerade in solchen Situatione­n lassen sie sich noch viel seltener auf Neues ein. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Zeit durchzuste­hen.“

Dass der Bedarf an Tagespfleg­e riesig ist, um vor allem pflegenden Angehörige­n ein wenig den Rücken freizuhalt­en, steht für Michael van Meerbeck außer Frage.

Zumal es nicht genügend ambulante Pflegedien­ste gibt, um die hohe Nachfrage danach befrieden zu können. „Allerdings, und das ist das Problem, leben wir nun mal nicht in normalen Zeiten und müssen Überzeugun­gsarbeit leisten“, betont Michael van Meerbeek. Da geht es ihm nicht anders als dem Team der Diakonie, das auch 2023 nicht müde werden dürfte, für seine Einrichtun­g kräftig die Werbetromm­el zu rühren.

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FOTOS (3): KLAUS NIKOLEI Angelika Jacobs würde sich freuen, wenn das Angebot der Tagespfleg­eeinrichtu­ngen von den Pflegekass­en stärker als bislang bekannt gemacht würde.
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Im Frühjahr 2021 hat die Tagespfleg­e an der Straße An der alten Gärtnerei 30 neu eröffnet.
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Hannelore Lindner (l.) und Rosemarie Fingler sind gerne dabei.

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