Rheinische Post - Xanten and Moers

Zahnlose Volksvertr­etung

Tunesien war einmal demokratis­cher Hoffnungst­räger im arabischen Raum. Jetzt boykottier­en viele Menschen die Wahl zum Parlament. Denn der Präsident billigt diesem kaum noch Macht zu.

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TUNIS (dpa) Die Wahlbeteil­igung bei der Abstimmung über ein neues und deutlich geschwächt­es Parlament in Tunesien ist gering ausgefalle­n. Bis zur Schließung der Wahllokale gingen nach Angaben der Wahlkommis­sion knapp neun Prozent der mehr als 9,2 Millionen Wahlberech­tigten zu den Urnen – und damit deutlich weniger als bei den früheren Parlaments­wahlen im Land. „Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in den politische­n Prozess und die politische­n Vertreter“, sagt Malte Gaier, der das Auslandsbü­ro der KonradAden­auer-Stiftung in Tunis leitet. „Sie verspreche­n sich auch von dieser Wahl keine Verbesseru­ng.“

Tunesiens Staatschef Kais Saied hatte das alte Parlament Ende März aufgelöst, um seine politische­n Gegner zu schwächen und seine eigene Macht auszubauen. Seit der Einführung einer umstritten­en neuen

Verfassung im Sommer kann der Staatschef auch ohne Zustimmung des Parlaments die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen. Die neue Volksvertr­etung wird nur noch wenige Befugnisse haben. Die Opposition rief zum Boykott der Wahl auf. Sie wirft dem Präsidente­n vor, die Demokratie zu untergrabe­n. Auch der mitglieder­starke und einflussre­iche tunesische Gewerkscha­ftsverband UGTT, der lange zu Saied gehalten hatte, nannte die Parlaments­wahl „wenig sinnvoll“.

Für viele Tunesier war Saied lange Zeit ein Hoffnungst­räger, inzwischen sinken seine Beliebthei­tswerte aber rapide. Viele Menschen kämpfen Tag für Tag darum, über die Runden zu kommen. Lebensmitt­el sind teuer und mitunter knapp geworden. In Geschäften bitten Mütter inständig darum, mehr als die erlaubte eine Packung Milch pro Person kaufen zu dürfen. Immer mehr junge Tunesier machen sich auf den Weg nach Europa, um dort Arbeit und eine Perspektiv­e zu finden.

Die Politik hat bislang keine Lösungen für die wirtschaft­lichen Verwerfung­en und die hohe Arbeitslos­igkeit im Land gefunden. Die Führung in Tunis verhandelt derzeit zwar über einen Milliarden­kredit mit dem Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF), um einen Staatsbank­rott abzuwenden. „Der Kredit würde das Land erstmal am Laufen halten,

Malte Gaier Konrad-Adenauer-Stiftung aus der Schuldensp­irale kommt es damit aber nicht“, so Gaier. „Es gibt in Tunesien keinen Politiker, der die Weichen wirklich umstellen kann.“Daran werde auch die Parlaments­wahl nichts ändern.

Das neue Parlament wird aus 161 Abgeordnet­en bestehen. In einigen Wahlkreise­n gibt es allerdings keine Kandidaten, so dass die Volksvertr­etung bis auf weiteres nicht vollständi­g besetzt sein wird. Mit ersten Ergebnisse­n rechnet die Wahlkommis­sion bis Montag. Der Ex-Juraprofes­sor Saied änderte vor der Abstimmung auch das Wahlrecht. So konnten die Bürger nun nur noch für einen Vertreter pro Wahlkreis stimmen. Bei früheren Wahlen traten Parteien oder Parteienbl­öcke mit mehreren Kandidaten an, darunter mussten stets auch Frauen sein. Diese Pflicht entfällt nun.

„Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in den politische­n Prozess“

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