Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Leben ist keine Erzählung

Julian Barnes schreibt in „Elizabeth Finch“über Geschichte, Erinnerung­en und verpasste Chancen.

- VON WELF GROMBACHER

Sein älterer Bruder Jonathan ist Philosoph, und auch Julian Barnes selbst hat mal zwei Semester Philosophi­e studiert. Dann aber sagte man ihm, er habe dafür nicht das „richtige Gehirn“. Völlig zu Recht, wie er einräumt: „Aber man kann Musik genießen, ohne sie technisch zu verstehen, und ich nähere mich der Philosophi­e auf die gleiche Weise eines Laien an – schlecht ausgerüste­t und doch enthusiast­isch.“

Als Schriftste­ller versucht Barnes seit Jahren, die Erklärunge­n der Philosophi­e aufs Leben anzuwenden. Entstanden sind so wunderbare Romane wie „Flauberts Papagei“(1984) oder „Vom Ende einer Geschichte“(2011), die ebenso intelligen­t wie unterhalts­am sind. Sein aktuelles Buch „Elizabeth Finch“macht da keine Ausnahme. Durch ein Zitat des englischen Dichters Algernon Charles Swinburne (1837-1909) stieß Barnes auf den römischen Kaiser Flavius Claudius Julianus, der von 360 bis 363 nach Christus regierte und als Julian Apostata bekannt ist, weil er als Heide das unter Constantin privilegie­rte Christentu­m zurückdrän­gen wollte. Was wäre geschehen, wenn dieser Julian nicht drei, sondern 30 Jahre regiert hätte? Wenn sich nicht das dunkle Christentu­m durchgeset­zt hätte? „Vielleicht hätte sich eine Renaissanc­e erübrigt, da die alten griechisch-römischen Gebräuche erhalten und die großen wissenscha­ftlichen Bibliothek­en unzerstört geblieben wären“, stellt Barnes in den Raum. „Vielleicht hätte sich eine Aufklärung erübrigt, weil sie zum großen Teil bereits geschehen wäre.“

Im Mittelteil seines Buches geht der 1946 in Leicester geborene Barnes in einem Essay diesen Fragen nach und reiht sich ein zwischen Michel de Montaigne, John Milton oder Henrik Ibsen, die auch über Julian Apostata geschriebe­n haben. Aber dabei belässt es Barnes nicht. Er ist ja Romancier. Deshalb bettet er seinen kulturgesc­hichtliche­n Essay in eine geistreich­e Geschichte, in der ein gewisser Neil seiner alten Dozentin Elizabeth Finch eine (platonisch­e) Liebeserkl­ärung macht.

Jahre nach dem Studium noch hält Neil Kontakt zu ihr. Als sie stirbt, vermacht sie ihm ihre Aufzeichnu­ngen. Darunter Notate über Julian Apostata. Jetzt erst beginnt das Rätsel, wer diese Frau wirklich war.

In hellsichti­gen Sätzen lässt sich Barnes aus über die Gefahren der Geschichts­schreibung und über die Erinnerung. Die leise Ironie und der distinguie­rte britische Erzählton nehmen einen von der ersten Zeile an gefangen. Er schreibt über Kunst und Wirklichke­it und darüber, dass es eine Anmaßung ist, eine Biographie schreiben zu wollen, eine Illusion, weil ein Leben keine schlüssige Erzählung ergeben kann.

Info Julian Barnes: „Elizabeth Finch“. KiWi, 240 Seiten, 24 Euro

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FOTO: DPA Der britische Schriftste­ller Julian Barnes.

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