Rheinische Post - Xanten and Moers
Revolution ohne Anführer
Wer könnte im Iran regieren, sollten die Mullahs wirklich stürzen? Die Opposition ist zersplittert. Im Westen sucht man gern Kontakt zu den sogenannten Volksmudschahedin. Die aber haben daheim wenig Rückhalt.
Als Politiker im italienischen Senat kürzlich eine führende Stimme aus der iranischen Opposition hören wollten, fiel ihre Wahl auf Mariam Radschawi. In einem blauen Kostüm mit passendem Kopftuch sprach die 69-Jährige per Video zu den Senatoren und sagte, das Regime in Teheran habe seine „Endphase“erreicht. Radschawis Gruppe, die Organisation der Volksmudschahedin (MEK), stehe als demokratische Alternative nach einem Sturz der Mullahs zur Verfügung, fügte Radschawi hinzu. Iranische Aktivisten und Experten waren entrüstet über die Einladung des Senats. Aus ihrer Sicht wird Radschawis MEK zu Unrecht von westlichen Politikern hofiert.
Die Protestwelle im Iran nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im September hat sich zur schwersten Krise in der Geschichte der Islamischen Republik entwickelt. Demonstranten trotzen der Gewalt des Unterdrückungsapparats und fordern das Ende des Mullah-Regimes. Doch es gibt bisher weder eine zentrale Führung der Protestbewegung noch ein klares politisches Programm für die Zukunft des Iran. Die Opposition innerhalb und außerhalb des Landes ist zersplittert und reicht von Linkssozialisten bis zu Monarchisten, die den 1979 gestürzten Schah wiederhaben wollen.
Radschawis Volksmudschahedin ist eine der wenigen Gruppen, die im Ausland einen Namen haben und gut vernetzt sind – das heißt aber nicht, dass sie als Vertreterin der iranischen Regimegegner anerkannt wird. Im Gegenteil. „Die MEK wird von den Iranern verachtet“, sagt Arash Azizi, Iran-Experte und Oppositionsaktivist in den USA, unserer Redaktion. „Wenn es eine Sache gibt, auf die sich wahrscheinlich alle Iraner einigen können, dann ist es der Hass auf die MEK.“
Das war nicht immer so. Die Volksmudschahedin entstanden in den 60erJahren als linke Studentengruppe. Sie kämpften gegen den Schah und beteiligten sich am Sturz der Monarchie 1979, waren aber auch Todfeinde der islamistischen Extremisten um Ajatollah Ruhollah Chomeini, die damals die Macht im Iran übernahmen. „Der Verfolgungsdruck gegen die Gruppe war hoch, viele ihrer Mitglieder wurden hingerichtet“, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin.
Die Führung der Volksmudschahedin verbündete sich daraufhin mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein, der von 1980 bis 1988 Krieg gegen den Iran führte, den ersten Golfkrieg, und verlegte ihren Sitz in den Irak. Viele Iraner sahen dies als Verrat am eigenen Land. Die einst breite Basis der Organisation aus Hunderttausenden Unterstützern in der Islamischen Republik bröckelte danach; heute liegt die Mitgliedschaft nur noch bei einigen Tausend. Die iranische Regierung betrachtet die MEK als Terrororganisation, die viele Iraner auf dem Gewissen habe.
Im Exil hätten die Volksmudschahedin über die Jahre an Einfluss im Iran verloren, sagt Keskin. Im westlichen Ausland dagegen konnte sich die Gruppe als führende Gegnerin der Islamischen Republik etablieren, obwohl sie vorübergehend auch von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft wurde. Unterstützung erhielt die MEK unter anderem von John Bolton, der von 2018 bis 2019 Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump war. An einer Großveranstaltung der Volksmudschahedin bei Paris im Jahr 2018 nahm Trumps Anwalt Rudy Giuliani teil. Ein iranischer Diplomat wurde später wegen eines versuchten Anschlags auf
Arash Azizi Oppositioneller im Exil die Kundgebung von einem belgischen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Nicht nur die Vereinigten Staaten und italienische Senatspolitiker legen Wert auf Kontakte zu der Organisation. Die MEK unterhält ihr Hauptquartier in Frankreich. Im November sprach MEKChefin Radschawi mit britischen Parlamentsabgeordneten, Anfang dieses Jahres traf sie sich nach Angaben ihrer Organisation mit der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU).
Wo westliche Politiker wichtige Ansprechpartner der iranischen Opposition ausgemacht haben wollen, sehen Experten eine Gruppe, die Radschawi vergöttert. Die MEK sei ein „korrupter Kult mit null Legitimität im Iran“, sagt der kanadische Nahost-Experte Thomas Juneau. Verehrung für die Familie Radschawi sei eine tragende Säule der MEKIdeologie, stellte die Denkfabrik Council on Foreign Relations fest.
Mariam Radschawis Mann Massud wird seit 2003 vermisst und ist vermutlich tot; trotzdem würden die beiden in der Organisation verehrt, „als ob sie übermenschliche Fähigkeiten hätten“, sagt Azizi. Mitglieder der Volksmudschahedin würden gezwungen, sich von ihren Ehepartnern scheiden zu lassen, „sodass die einzige Ehe in der Organisation die der zwei Anführer Mariam und Massud Radschawi ist“. Die MEK ließ eine Bitte unserer Redaktion um Stellungnahme unbeantwortet.
Ob Kult oder nicht: Seit Beginn der Protestwelle im September versucht die MEK, sich im Iran neue Geltung zu verschaffen. Sogenannte Widerstandseinheiten der Organisation beteiligen sich laut MEK am Aufstand gegen das Regime und organisieren lokale Protestaktionen und Cyber-Angriffe auf Regierungsstellen. MEK veröffentlicht täglich Videos von Demonstrationen und Streiks im Iran. Für die Gruppe gehe es darum, mit Hilfe der Proteste die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verlorene Unterstützung im Iran wiederaufzubauen, sagt Iran-Experte Keskin: „Das ist eine neue Chance für sie.“
„Die Volksmudschahedin werden von den Iranern verachtet“