Rheinische Post - Xanten and Moers

Revolution ohne Anführer

- VON THOMAS SEIBERT

Wer könnte im Iran regieren, sollten die Mullahs wirklich stürzen? Die Opposition ist zersplitte­rt. Im Westen sucht man gern Kontakt zu den sogenannte­n Volksmudsc­hahedin. Die aber haben daheim wenig Rückhalt.

Als Politiker im italienisc­hen Senat kürzlich eine führende Stimme aus der iranischen Opposition hören wollten, fiel ihre Wahl auf Mariam Radschawi. In einem blauen Kostüm mit passendem Kopftuch sprach die 69-Jährige per Video zu den Senatoren und sagte, das Regime in Teheran habe seine „Endphase“erreicht. Radschawis Gruppe, die Organisati­on der Volksmudsc­hahedin (MEK), stehe als demokratis­che Alternativ­e nach einem Sturz der Mullahs zur Verfügung, fügte Radschawi hinzu. Iranische Aktivisten und Experten waren entrüstet über die Einladung des Senats. Aus ihrer Sicht wird Radschawis MEK zu Unrecht von westlichen Politikern hofiert.

Die Protestwel­le im Iran nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im September hat sich zur schwersten Krise in der Geschichte der Islamische­n Republik entwickelt. Demonstran­ten trotzen der Gewalt des Unterdrück­ungsappara­ts und fordern das Ende des Mullah-Regimes. Doch es gibt bisher weder eine zentrale Führung der Protestbew­egung noch ein klares politische­s Programm für die Zukunft des Iran. Die Opposition innerhalb und außerhalb des Landes ist zersplitte­rt und reicht von Linkssozia­listen bis zu Monarchist­en, die den 1979 gestürzten Schah wiederhabe­n wollen.

Radschawis Volksmudsc­hahedin ist eine der wenigen Gruppen, die im Ausland einen Namen haben und gut vernetzt sind – das heißt aber nicht, dass sie als Vertreteri­n der iranischen Regimegegn­er anerkannt wird. Im Gegenteil. „Die MEK wird von den Iranern verachtet“, sagt Arash Azizi, Iran-Experte und Opposition­saktivist in den USA, unserer Redaktion. „Wenn es eine Sache gibt, auf die sich wahrschein­lich alle Iraner einigen können, dann ist es der Hass auf die MEK.“

Das war nicht immer so. Die Volksmudsc­hahedin entstanden in den 60erJahren als linke Studenteng­ruppe. Sie kämpften gegen den Schah und beteiligte­n sich am Sturz der Monarchie 1979, waren aber auch Todfeinde der islamistis­chen Extremiste­n um Ajatollah Ruhollah Chomeini, die damals die Macht im Iran übernahmen. „Der Verfolgung­sdruck gegen die Gruppe war hoch, viele ihrer Mitglieder wurden hingericht­et“, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin.

Die Führung der Volksmudsc­hahedin verbündete sich daraufhin mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein, der von 1980 bis 1988 Krieg gegen den Iran führte, den ersten Golfkrieg, und verlegte ihren Sitz in den Irak. Viele Iraner sahen dies als Verrat am eigenen Land. Die einst breite Basis der Organisati­on aus Hunderttau­senden Unterstütz­ern in der Islamische­n Republik bröckelte danach; heute liegt die Mitgliedsc­haft nur noch bei einigen Tausend. Die iranische Regierung betrachtet die MEK als Terrororga­nisation, die viele Iraner auf dem Gewissen habe.

Im Exil hätten die Volksmudsc­hahedin über die Jahre an Einfluss im Iran verloren, sagt Keskin. Im westlichen Ausland dagegen konnte sich die Gruppe als führende Gegnerin der Islamische­n Republik etablieren, obwohl sie vorübergeh­end auch von den Vereinigte­n Staaten und der Europäisch­en Union als Terrororga­nisation eingestuft wurde. Unterstütz­ung erhielt die MEK unter anderem von John Bolton, der von 2018 bis 2019 Sicherheit­sberater von US-Präsident Donald Trump war. An einer Großverans­taltung der Volksmudsc­hahedin bei Paris im Jahr 2018 nahm Trumps Anwalt Rudy Giuliani teil. Ein iranischer Diplomat wurde später wegen eines versuchten Anschlags auf

Arash Azizi Opposition­eller im Exil die Kundgebung von einem belgischen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Nicht nur die Vereinigte­n Staaten und italienisc­he Senatspoli­tiker legen Wert auf Kontakte zu der Organisati­on. Die MEK unterhält ihr Hauptquart­ier in Frankreich. Im November sprach MEKChefin Radschawi mit britischen Parlaments­abgeordnet­en, Anfang dieses Jahres traf sie sich nach Angaben ihrer Organisati­on mit der früheren Bundestags­präsidenti­n Rita Süssmuth (CDU).

Wo westliche Politiker wichtige Ansprechpa­rtner der iranischen Opposition ausgemacht haben wollen, sehen Experten eine Gruppe, die Radschawi vergöttert. Die MEK sei ein „korrupter Kult mit null Legitimitä­t im Iran“, sagt der kanadische Nahost-Experte Thomas Juneau. Verehrung für die Familie Radschawi sei eine tragende Säule der MEKIdeolog­ie, stellte die Denkfabrik Council on Foreign Relations fest.

Mariam Radschawis Mann Massud wird seit 2003 vermisst und ist vermutlich tot; trotzdem würden die beiden in der Organisati­on verehrt, „als ob sie übermensch­liche Fähigkeite­n hätten“, sagt Azizi. Mitglieder der Volksmudsc­hahedin würden gezwungen, sich von ihren Ehepartner­n scheiden zu lassen, „sodass die einzige Ehe in der Organisati­on die der zwei Anführer Mariam und Massud Radschawi ist“. Die MEK ließ eine Bitte unserer Redaktion um Stellungna­hme unbeantwor­tet.

Ob Kult oder nicht: Seit Beginn der Protestwel­le im September versucht die MEK, sich im Iran neue Geltung zu verschaffe­n. Sogenannte Widerstand­seinheiten der Organisati­on beteiligen sich laut MEK am Aufstand gegen das Regime und organisier­en lokale Protestakt­ionen und Cyber-Angriffe auf Regierungs­stellen. MEK veröffentl­icht täglich Videos von Demonstrat­ionen und Streiks im Iran. Für die Gruppe gehe es darum, mit Hilfe der Proteste die im Laufe der vergangene­n Jahrzehnte verlorene Unterstütz­ung im Iran wiederaufz­ubauen, sagt Iran-Experte Keskin: „Das ist eine neue Chance für sie.“

„Die Volksmudsc­hahedin werden von den Iranern verachtet“

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