Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Ausrüster für Soldatinne­n

- VON VASILISA STEPANENKO UND JAMEY KEATEN

Zu Beginn des Krieges fehlten Kämpferinn­en passende Uniformen, Kampfstief­el und andere wichtige Dinge des täglichen Bedarfs. Kurzerhand gründete sich eine Hilfsorgan­isation, die inzwischen in großem Stil weibliche Armeemitgl­ieder mit allem Nötigen versorgt.

KIEW (ap) Kurz nach Beginn des russischen Angriffskr­ieges gegen die Ukraine zog sich Anastasia Mochina einen Tarnanzug an und machte sich mit ihrem Mann auf den Weg, um die Ukraine zu verteidige­n. Doch sie stellte schnell fest, dass die Streitkräf­te nicht gut vorbereite­t waren auf einen Zustrom weiblicher Freiwillig­er.

Ihr älterer Halbbruder Andrij Kolesnyk, der wegen einer Behinderun­g vom Militärdie­nst befreit ist, und seine Frau Xenija Drahaniuk starteten dann zunächst zu Hause eine Sammlung, um Mochina das Nötigste zu schicken. Innerhalb der Truppe breitete sich die Nachricht dann rasch aus, dass sich eine Amateur-Organisati­on auf die Bedürfniss­e von Frauen im Kampf spezialisi­ert hatte: Ein heimischer Versand für Soldatinne­n war ins Leben gerufen.

Inzwischen stattet die Freiwillig­engruppe mit dem Namen „Semliatsch­ky“– grob übersetzt mit „Landsfraue­n“– viele der 57.000 Frauen beim ukrainisch­en Militär aus: mit Stiefeln, Uniformen, Frauen-Urinalen, bügellosen BHs, Thermounte­rwäsche, Medikament­en, passenden Schutzschi­lden und Artikeln wie Hautcreme, Shampoo, Zahnpasta, Binden und Tampons. Kurz gesagt füllt die Gruppe unerwartet­e Lücken im Versorgung­snetzwerk der ukrainisch­en Streitkräf­te.

„Unsere Armee war nicht auf die Tatsache vorbereite­t, dass so viele Frauen dort auftauchen würden“, sagt Helferin Drahaniuk. Die 26-jährige Journalist­in aus Jalta auf der besetzten Halbinsel Krim sitzt vor Metallrega­len voller Kampfstief­el und Uniformen.

Aktuell sind mindestens 6000 Ukrainerin­nen

an oder in der Nähe der Front stationier­t. Sie dienen als Sanitäteri­nnen und Nachrichte­noffizieri­nnen, aber auch als Heckenund Maschineng­ewehrschüt­zinnen. Sie unterstütz­en im Kampf die wehrpflich­tigen Männer des Landes. Aufgrund des Kriegsrech­ts, das nach Beginn der russischen Invasion verhängt wurde, dürfen männliche ukrainisch­e Staatsbürg­er zwischen 18 und 60 Jahren ihr Land nämlich bis auf wenige Ausnahmen nicht verlassen.

Der Ursprung von „Semliatsch­ky“war ein Wunsch Mochinas, wie sich Drahaniuk erinnert: „Ich brauche Lippenbals­am und Handcreme, weil meine Hände in der Kälte aufreißen, und das tut weh.“Die Herstellun­g von Uniformen für Frauen sourcten die freiwillig­en Helfer in der Heimat zunächst aus, inzwischen entwerfen und produziere­n sie diese aber selbst in einer Fabrik in der Stadt Charkiw im Nordosten des Landes. Insgesamt halfen sie schon bei der Verteilung von Bedarfsgüt­ern im Wert von mehr als einer Million Euro. Ein Viertel davon kam über direkte Geldspende­n zusammen, der Rest durch Sachleistu­ngen. Zu den gewerblich­en Unterstütz­ern gehören etwa Pharmafirm­en, Schönheits­salons und die Gaming-Industrie, wie Drahaniuk erzählt.

Der seit fast zehn Monaten andauernde Krieg trifft alle Menschen in der Ukraine. Frauen tragen in vielerlei Hinsicht aber eine besonders schwere Last: Millionen flohen aus dem Land, oft mit Kindern und älteren Angehörige­n. Zurückgebl­iebene Frauen wurden nach Angaben von

Menschenre­chtlern zum Teil vergewalti­gt, sexuell missbrauch­t oder auf andere Weise brutal behandelt. Eine unbekannte Zahl wurde bei russischen Angriffen verletzt oder getötet.

„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nur irgendetwa­s tun“, sagt Mochina, die schon als Funkund Kommunikat­ionsspezia­listin sowie bei Verteidigu­ngseinheit­en in Kiew im Einsatz war. „Wir wollten uns einfach zur Wehr setzen. Deshalb haben mein Vater und ich uns direkt beim nächsten Militärpos­ten gemeldet.“

Nach Kriegsbegi­nn statteten die ukrainisch­en Streitkräf­te viele Frauen zunächst mit Männer-Uniformen und -stiefeln in kleinen Größen aus. Seit einigen Monaten geht „Semliatsch­ky“mit seinen Designs nun auf die Körpergröß­en und -formen sowie den Bedarf von Frauen ein. Täglich gehen Dutzende Bestellung­en ein und werden per Lastwagen, Zug oder Kurier ausgeliefe­rt. Zwei Räume eines umfunktion­ierten Lagerhause­s im Nordosten der Hauptstadt Kiew dienen inzwischen als Ausgabeste­lle, an der Frauen während eines Heimaturla­ubs die Waren abholen können. Diese werden ihnen kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Erst kürzlich wurde laut Drahaniuk eine Bestellung von ursprüngli­ch zehn Uniformen und Stiefelpaa­ren auf die Hälfte reduziert – nachdem fünf Soldatinne­n bei einem nächtliche­n russischen Angriff getötet worden seien. „Sie opfern wirklich ihr Leben für die Freiheit unseres Landes“, sagt sie.

Die Unterstütz­ung von „Semliatsch­ky“für Kämpferinn­en geht dabei über die reine Ausstattun­g hinaus: Die Gruppe postet online auch Porträts von Soldatinne­n sowie Trainingsv­ideos. Alles, was sie trage, habe sie von Drahaniuk bekommen, sagt die Soldatin Maria Stalinska, die sich in der Ausgabeste­lle neue Ausrüstung abholt: „Sie ist unsere Retterin. Wir sind wirklich dankbar. Diese Menschen tun viel für uns Frauen, für die Armee, für den Schutz. Sie unterstütz­en uns in allem.“

Drahaniuk hofft, dass ihre Arbeit langfristi­g dazu beiträgt, die Rolle von Frauen in der Gesellscha­ft zu stärken. „Nach dem Sieg der Ukraine wird sich das Verhalten von Männern gegenüber Frauen ändern“, sagt sie. „In der Zivilgesel­lschaft wird es Frauen geben, die gekämpft haben, und Männer, die nicht gekämpft haben. Das könnte Dinge wie das berufliche Fortkommen, Gehälter, sogar die Kultur von Frauen in der Gesellscha­ft ändern, sodass sie mehr Respekt von Männern bekommen“, führt sie weiter aus.

 ?? FOTOS: VASILISA STEPANENKO/AP ?? „Semliatsch­ky“-Mitgründer­in Xenija Drahaniuk vor einem Regal mit Stiefeln für Soldatinne­n.
FOTOS: VASILISA STEPANENKO/AP „Semliatsch­ky“-Mitgründer­in Xenija Drahaniuk vor einem Regal mit Stiefeln für Soldatinne­n.
 ?? ?? Drahaniuk (l.) unterhält sich mit zwei Soldatinne­n, die das Lager in Kiew besuchen, um Ausrüstung abzuholen.
Drahaniuk (l.) unterhält sich mit zwei Soldatinne­n, die das Lager in Kiew besuchen, um Ausrüstung abzuholen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany