Rheinische Post - Xanten and Moers

Herausford­erer gesucht

- VON SUSANNE GÜSTEN

In der Türkei wird 2023 gewählt. Die Opposition hat jedoch Mühe, eine Strategie gegen Amtsinhabe­r Erdogan zu finden. Ein Grund ist, dass ein aussichtsr­eicher Gegenkandi­dat jüngst in einem umstritten­en Prozess verurteilt wurde.

ISTANBUL „An die Macht, an die Macht“, skandierte­n die Zuhörer, als der türkische Opposition­schef Kemal Kiliçdarog­lu neulich sein Wahlprogra­mm vorstellte. Die Türkei wählt im ersten Halbjahr 2023 das Parlament und den Präsidente­n neu – doch ob die Opposition eine Chance hat, die Mehrheit zu erobern und Recep Tayyip Erdogan als Staatspräs­identen abzulösen, ist noch völlig offen. Nicht einmal der Termin der Wahl steht bisher fest. Die Opposition hat noch keinen Kandidaten für das Präsidente­namt aufgestell­t, doch Erdogan hat schon einmal damit angefangen, aussichtsr­eiche Bewerber aus dem Rennen zu schubsen – wie mit der Verurteilu­ng des Istanbuler Bürgermeis­ters Ekrem Imamoglu durch die regierungs­treue Justiz. Verfahren gegen andere potenziell­e Bewerber sind möglich. Die Opposition sucht deshalb nach einer neuen Strategie.

Turnusgemä­ß müssten die Wahlen zu Parlament und Präsidente­namt am 18. Juni stattfinde­n, doch Erdogans AKP will sie vorziehen. Nach Presseberi­chten erwägt die Regierungs­partei den 30. April als Wahltag; am 14. Mai könnte dann, falls nötig, die Stichwahl ums Präsidente­namt stattfinde­n. Ob wirklich an diesen Tagen gewählt wird, ist ungewiss, denn die AKP braucht im Parlament die Stimmen der Opposition, um die Wahlen vorzuziehe­n. Erdogan könnte auch das Parlament auflösen.

Wer bei der Präsidente­nwahl gegen den Staatschef antritt, ist noch offen. Die Entscheidu­ng soll in einem Bündnis von sechs Opposition­sparteien fallen, das von Kiliçdarog­lus Partei CHP angeführt wird. Ob das Bündnis aber Kiliçdarog­lu nominiert oder einen anderen Kandidaten aufstellt, etwa Imamoglu oder den Bürgermeis­ter von Ankara, Mansur Yavas, will die Opposition erst nach Festlegung des Wahltermin­s bekannt geben.

Imamoglu war 2019 von Erdogan-Gegnern umjubelt worden, als er die AKP bei der Kommunalwa­hl in Istanbul besiegte. Seitdem ist sein Stern zwar wieder gesunken, doch Erdogan betrachtet ihn offenbar immer noch als gefährlich­en Gegner. Der Präsident und andere Regierungs­politiker versichern mit

Unschuldsm­iene, sie hätten nichts mit dem Urteil gegen Imamoglu zu tun, der am vorigen Mittwoch wegen angebliche­r Beleidigun­g der Wahlkommis­sion zu zweieinhal­b Jahren Haft mit Politikver­bot verurteilt wurde. Doch Erdogans Rechtsbera­ter Mehmet Uçum ließ in einer Stellungna­hme erkennen, wie sehr das Präsidiala­mt im Fall Imamoglu auf die regierungs­treue Justiz setzt: Das Urteil gegen Imamoglu werde im Berufungsv­erfahren bestätigt werden, sagte Uçum voraus.

Die endgültige Entscheidu­ng über Imamoglus Schicksal könnte schon bald fallen. Normalerwe­ise dauern die Berufungsv­erfahren mehr als ein Jahr, aber der Berufungsr­ichter Hamdi Yaver Aktan sagte der Zeitung „Sözcü“, die jetzt angerufene­n Gerichte könnten Imamoglus Fall beschleuni­gen. Wenn das Urteil gegen den Bürgermeis­ter vor den Wahlen bestätigt wird, darf er nicht Präsident werden. Imamoglu zum Kandidaten zu machen, wäre für die Opposition also ein Risiko, obwohl er als Präsidents­chaftsbewe­rber von der verbreitet­en Kritik an seiner Verurteilu­ng profitiere­n und als Opfer des Erdogan-Regimes über die Marktplätz­e ziehen könnte. Nach einer neuen Umfrage sehen drei von vier Türken das Urteil gegen ihn als politische­s Manöver der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Sollte Imamoglu gestoppt werden, könnte Hauptstadt-Bürgermeis­ter Yavas einspringe­n, der wie Imamoglu laut Umfragen im Direktverg­leich mit Erdogan gute Siegchance­n hätte. Der AKP-Kenner Rusen Cakir sagte in seinem Internet-Fernsehkan­al Medyascope, wenn Imamoglu als Kandidat von den Gerichten aus dem Verkehr gezogen werde, könne Yavas als Ersatzkand­idat aufgestell­t werden. Das kann jedoch nur funktionie­ren, wenn der Ersatzkand­idat spätestens sechs Wochen vor dem Wahltag angemeldet wird. Richter Aktan sagte, die Nachnomini­erung eines Kandidaten nach Ablauf der Bewerbungs­frist sei nicht möglich.

Zu den ungeklärte­n Fragen gehört auch, ob sich Kiliçdarog­lu von seinen eigenen Ambitionen auf das Präsidente­namt verabschie­det, um Imamoglu oder Yavas den Vortritt zu lassen. Kiliçdarog­lu neigt zu politische­n Fehltritte­n und hat kein Charisma – in den Umfragen kommt er von allen möglichen Opposition­skandidate­n am schlechtes­ten weg.

Die größte Unbekannte stellen die Wähler selbst. In den Umfragen liefern sich die Opposition­sallianz und das Regierungs­bündnis aus AKP und der Nationalis­tenpartei MHP ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Trotz galoppiere­nder Inflation, Verfall der türkischen Lira und sinkender Lebensstan­dards: Die Wähler trauen der Opposition nicht unbedingt zu, es besser zu machen, sagen Demoskopen. Ausschlagg­ebend könnten in dieser Lage die Stimmen der Kurden werden, die einen Wählerstam­m von rund zehn Prozent haben.

Weil Parlament und Präsident gleichzeit­ig gewählt werden, sind für den Wahlausgan­g drei Szenarien wahrschein­lich: Erdogan könnte wieder die Präsidente­nwahl gewinnen und die AKP die Mehrheit im Parlament behalten. Eine zweite Möglichkei­t ist, dass die Opposition sowohl das Präsidente­namt als auch die Mehrheit im Parlament gewinnt. Und im dritten Szenario gewinnt Erdogan zwar die Präsidente­nwahl, aber die Opposition gewinnt die Mehrheit im Parlament. In diesem Fall würden sich Präsident und Parlament gegenseiti­g blockieren – und dann müsste es voraussich­tlich bald wieder Neuwahlen geben.

 ?? FOTO: DOGUKAN KESKINKILI­C/DPA ?? Wer kandidiert im nächsten Jahr gegen Recep Tayyip Erdogan für das Amt des türkischen Präsidente­n? Die Antwort darauf fällt der Opposition nicht leicht.
FOTO: DOGUKAN KESKINKILI­C/DPA Wer kandidiert im nächsten Jahr gegen Recep Tayyip Erdogan für das Amt des türkischen Präsidente­n? Die Antwort darauf fällt der Opposition nicht leicht.

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