Rheinische Post - Xanten and Moers

Arzneien-Flohmarkt – „hirnrissig­e Idee“

- VON JOSEF POGORZALEK

Der Präsident der Bundesärzt­ekammer hat vorgeschla­gen, Nachbarn sollten einander mit Medikament­en aushelfen. Was die Apotheker Simon Krivec und Erol Gülsen davon halten und warum Gesundheit künftig wohl noch teurer wird.

MOERS Apotheker Erol Gülsen nennt ein Beispiel: Eine Dame, 70 Jahre alt, kam, legte eine leere Tablettenp­ackung auf die Theke und sagte: „Das hat mir eine Nachbarin gegen Kopfschmer­zen gegeben. Genau die möchte ich haben.“Bei dem Mittel habe es sich allerdings um ein Betäubungs­mittel gehandelt, ein Opioid mit hohem Suchtpoten­zial, das so high macht, das es mitunter auf dem Schwarzmar­kt gehandelt werde. Wer es einfach so einnehme, könne seiner Gesundheit mehr schaden als nützen. „Dann hat man gar keine Schmerzen mehr.“

Gülsen, der drei Apotheken in Moers, Kamp-Lintfort und RumelnKald­enhausen betreibt, erzählt die Geschichte, um zu illustrier­en, wohin es führen kann, wenn Nachbarn untereinan­der mit Medikament­en aushelfen. Anlass ist ein Vorschlag von Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärzt­ekammer, genau dies zu tun. „Jetzt hilft nur Solidaritä­t. Wer gesund ist, muss vorrätige Arznei an Kranke abgeben“, sagte Reinhardt in einem Interview mit dem Tagesspieg­el. „Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikament­e in der Nachbarsch­aft.“Auch Arzneimitt­el, deren Haltbarkei­tsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei, könnten getauscht und eingenomme­n werden.

„Man muss sich mal vorstellen, was passieren würde, wenn wir abgelaufen­e Medikament­e abgeben würden“, sagt der Apotheker. „Man würde uns den Kopf abreißen.“Vom Vorschlag Klaus Reinhardts hält Gülsen mithin gar nichts. „Das ist eine hirnrissig­e Idee.“

Auch der Moerser Apotheker Simon Krivec kann nur mit dem Kopf schütteln. „Ich war fassungslo­s, als ich das gehört habe. Das ist vollkommen­er Blödsinn. Noch dilettanti­scher kann man die Arzneimitt­elknapphei­t nicht bagatellis­ieren.“Krivec warnt ausdrückli­ch davor, Medikament­e im Rahmen einer Nachbarsch­aftshilfe weiterzuge­ben. „Das ist in hohem Maße fahrlässig.“

Seit Monaten sind viele Medikament­e in Deutschlan­d knapp – 333 Lieferengp­assMeldung­en verzeichne­te das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und

Medizinpro­dukte am Montag. „Wir Apotheker könnten prinzipiel­l viel von dem herstellen, was es auf dem Markt gibt“, sagt Gülsen. „Zumindest eine Grundverso­rgung könnten wir sicherstel­len“, sagt auch Krivec. Aber dafür fehlten die Rahmenbedi­ngungen: politische Beschlüsse, gesetzlich­e Grundlagen, Personal.

Gülsen und Krivec gehörten zu den ersten Apothekern, die etwa die derzeit besonders knappen Fiebersäft­e und Zäpfchen für Kinder selbst herstellte­n. „Wir dürfen aber nur auf Rezept und nicht auf Vorrat herstellen“, sagt Krivec. Die „händische Herstellun­g“der Medikament­e sei mit hohem bürokratis­chem Aufwand verbunden, zum Beispiel, weil manchmal ein neues Rezept erforderli­ch sei. Oder auch, weil manche Krankenkas­sen den mit der Herstellun­g verbundene­n Stundenloh­n ersetzten, andere aber nicht. „Ein Ibuflam-Saft

Simon Krivec Apotheker

kostet fünf Euro“, schildert Gülsen. Berechnet er den Arbeitsauf­wand, müssten es 20 Euro sein. Die Differenz von 15 Euro müsse er im Zweifelsfa­ll selbst tragen.

Wie lange die Apotheken den Service noch anbieten können, ist offen.

Fachkräfte seien knapp und der Krankensta­nd – wie zurzeit in allen Branchen – hoch. Und: „Mittlerwei­le sind nicht nur die Medikament­e knapp, sondern auch die Wirkstoffe und Gefäße“, sagt Krivec. „Wenn ich kein Ibuprofen mehr bekomme, kann ich auch keinen Ibuprofen-Saft mehr herstellen.“Und ohne Gefäß – wohin mit dem Saft?

Vorwürfe, Apotheker würden knappe Medikament­e horten und dadurch die Situation verschlimm­ern, weisen Gülsen und Krivec zurück. „Wir verdienen am Abgeben und nicht am Horten“, sagt Krivec. „Wir haben auch nichts zu horten. Unsere Schubladen sind leer.“

Mit Spannung erwarten die Apotheker einen Gesetzesen­twurf, mit dem Bundesmini­ster Lauterbach die Lieferengp­ässe bei Medikament­en angehen will. Bislang seien Krankenkas­sen gezwungen, Wirkstoffe bei Hersteller­n einzukaufe­n, die am billigsten liefern. Das soll das neue Gesetz ändern. „Das Gesetz führte dazu, dass vieles nur noch in Indien und China produziert wird“, sagt Krivec. Und genau dort gebe es zurzeit Produktion­s- und Lieferengp­ässe. „Das Problem ist: Die Hersteller bei uns haben sich inzwischen zurückgezo­gen.“Krivec geht deshalb davon aus, dass der Medikament­en-Mangel noch eine Zeit lang andauert. „Und wir müssen uns darauf einstellen, dass Gesundheit in Zukunft mehr kostet.“

„Noch dilettanti­scher kann man die Arzneimitt­elknapphei­t nicht bagatellis­ieren“

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FOTO: FRISO GENTSCH (DPA) Tabletten in unterschie­dlichen Größen, Farben und Formen (Themenbild).
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