Rheinische Post - Xanten and Moers
Arzneien-Flohmarkt – „hirnrissige Idee“
Der Präsident der Bundesärztekammer hat vorgeschlagen, Nachbarn sollten einander mit Medikamenten aushelfen. Was die Apotheker Simon Krivec und Erol Gülsen davon halten und warum Gesundheit künftig wohl noch teurer wird.
MOERS Apotheker Erol Gülsen nennt ein Beispiel: Eine Dame, 70 Jahre alt, kam, legte eine leere Tablettenpackung auf die Theke und sagte: „Das hat mir eine Nachbarin gegen Kopfschmerzen gegeben. Genau die möchte ich haben.“Bei dem Mittel habe es sich allerdings um ein Betäubungsmittel gehandelt, ein Opioid mit hohem Suchtpotenzial, das so high macht, das es mitunter auf dem Schwarzmarkt gehandelt werde. Wer es einfach so einnehme, könne seiner Gesundheit mehr schaden als nützen. „Dann hat man gar keine Schmerzen mehr.“
Gülsen, der drei Apotheken in Moers, Kamp-Lintfort und RumelnKaldenhausen betreibt, erzählt die Geschichte, um zu illustrieren, wohin es führen kann, wenn Nachbarn untereinander mit Medikamenten aushelfen. Anlass ist ein Vorschlag von Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, genau dies zu tun. „Jetzt hilft nur Solidarität. Wer gesund ist, muss vorrätige Arznei an Kranke abgeben“, sagte Reinhardt in einem Interview mit dem Tagesspiegel. „Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft.“Auch Arzneimittel, deren Haltbarkeitsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei, könnten getauscht und eingenommen werden.
„Man muss sich mal vorstellen, was passieren würde, wenn wir abgelaufene Medikamente abgeben würden“, sagt der Apotheker. „Man würde uns den Kopf abreißen.“Vom Vorschlag Klaus Reinhardts hält Gülsen mithin gar nichts. „Das ist eine hirnrissige Idee.“
Auch der Moerser Apotheker Simon Krivec kann nur mit dem Kopf schütteln. „Ich war fassungslos, als ich das gehört habe. Das ist vollkommener Blödsinn. Noch dilettantischer kann man die Arzneimittelknappheit nicht bagatellisieren.“Krivec warnt ausdrücklich davor, Medikamente im Rahmen einer Nachbarschaftshilfe weiterzugeben. „Das ist in hohem Maße fahrlässig.“
Seit Monaten sind viele Medikamente in Deutschland knapp – 333 LieferengpassMeldungen verzeichnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte am Montag. „Wir Apotheker könnten prinzipiell viel von dem herstellen, was es auf dem Markt gibt“, sagt Gülsen. „Zumindest eine Grundversorgung könnten wir sicherstellen“, sagt auch Krivec. Aber dafür fehlten die Rahmenbedingungen: politische Beschlüsse, gesetzliche Grundlagen, Personal.
Gülsen und Krivec gehörten zu den ersten Apothekern, die etwa die derzeit besonders knappen Fiebersäfte und Zäpfchen für Kinder selbst herstellten. „Wir dürfen aber nur auf Rezept und nicht auf Vorrat herstellen“, sagt Krivec. Die „händische Herstellung“der Medikamente sei mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden, zum Beispiel, weil manchmal ein neues Rezept erforderlich sei. Oder auch, weil manche Krankenkassen den mit der Herstellung verbundenen Stundenlohn ersetzten, andere aber nicht. „Ein Ibuflam-Saft
Simon Krivec Apotheker
kostet fünf Euro“, schildert Gülsen. Berechnet er den Arbeitsaufwand, müssten es 20 Euro sein. Die Differenz von 15 Euro müsse er im Zweifelsfall selbst tragen.
Wie lange die Apotheken den Service noch anbieten können, ist offen.
Fachkräfte seien knapp und der Krankenstand – wie zurzeit in allen Branchen – hoch. Und: „Mittlerweile sind nicht nur die Medikamente knapp, sondern auch die Wirkstoffe und Gefäße“, sagt Krivec. „Wenn ich kein Ibuprofen mehr bekomme, kann ich auch keinen Ibuprofen-Saft mehr herstellen.“Und ohne Gefäß – wohin mit dem Saft?
Vorwürfe, Apotheker würden knappe Medikamente horten und dadurch die Situation verschlimmern, weisen Gülsen und Krivec zurück. „Wir verdienen am Abgeben und nicht am Horten“, sagt Krivec. „Wir haben auch nichts zu horten. Unsere Schubladen sind leer.“
Mit Spannung erwarten die Apotheker einen Gesetzesentwurf, mit dem Bundesminister Lauterbach die Lieferengpässe bei Medikamenten angehen will. Bislang seien Krankenkassen gezwungen, Wirkstoffe bei Herstellern einzukaufen, die am billigsten liefern. Das soll das neue Gesetz ändern. „Das Gesetz führte dazu, dass vieles nur noch in Indien und China produziert wird“, sagt Krivec. Und genau dort gebe es zurzeit Produktions- und Lieferengpässe. „Das Problem ist: Die Hersteller bei uns haben sich inzwischen zurückgezogen.“Krivec geht deshalb davon aus, dass der Medikamenten-Mangel noch eine Zeit lang andauert. „Und wir müssen uns darauf einstellen, dass Gesundheit in Zukunft mehr kostet.“
„Noch dilettantischer kann man die Arzneimittelknappheit nicht bagatellisieren“