Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Urteil für die Gegenwart

- VON DOROTHEE KRINGS

Wer an einem Ort grausamer Morde als Bürokraft mithilft, dass die Verbrechen reibungslo­s exekutiert werden, macht sich der Beihilfe schuldig. Das hat das Landgerich­t Itzehoe gerade festgehalt­en und eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrat­ionslager Stutthof zu einer Bewährungs­strafe verurteilt. Die Frau ist inzwischen 97 Jahre alt. Es ging also weniger darum, eine Schuld zu vergelten oder die Täterin zur Einsicht zu bringen. Es ging vielmehr um die Frage, ob eine 18-jährige Stenotypis­tin persönlich­e Mitschuld am Mord in mehr als 10.000 Fällen trägt. Oder ob sie sich darauf zurückzieh­en kann, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Das Urteil ist also von grundsätzl­icher Bedeutung: Verantwort­ung tragen alle, die von Gräueltate­n wissen, mithelfen, ihre Chance auf Versetzung nicht ergreifen – egal, ob sie dabei eine Waffe oder einen Bleistift in der Hand haben.

Natürlich stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, dafür einen langen Prozess gegen einen sehr alten Menschen zu führen. Greise Täter vor Gericht, das weckt Mitleidsim­pulse. Und bei Jüngeren vielleicht auch den Gedanken, dass man nie weiß, wie man selbst gehandelt hätte. Warum also mehr als 70 Jahre später gegen eine Frau verhandeln, die ihr Leben danach gelebt hat?

Weil es zuerst um die Opfer gehen muss. Auch um die Überlebend­en, die selbst hochbetagt vor Gericht zu Wort kamen. Sie verdienen, dass Schuld auch von sogenannte­n Schreibtis­chtätern als Schuld benannt – und geahndet – wird. Deutschlan­d ist erst jetzt so weit. Spät, aber das ist kein Argument dagegen. Auch geht es nicht nur um die Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit, sondern um die Gegenwart. Um die Verständig­ung darauf, dass mündige Menschen Verantwort­ung für ihr Handeln tragen. Auch in barbarisch­en Zeiten. Und egal, an welchem Rädchen sie drehen.

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