Rheinische Post - Xanten and Moers
Ein Urteil für die Gegenwart
Wer an einem Ort grausamer Morde als Bürokraft mithilft, dass die Verbrechen reibungslos exekutiert werden, macht sich der Beihilfe schuldig. Das hat das Landgericht Itzehoe gerade festgehalten und eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Frau ist inzwischen 97 Jahre alt. Es ging also weniger darum, eine Schuld zu vergelten oder die Täterin zur Einsicht zu bringen. Es ging vielmehr um die Frage, ob eine 18-jährige Stenotypistin persönliche Mitschuld am Mord in mehr als 10.000 Fällen trägt. Oder ob sie sich darauf zurückziehen kann, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Das Urteil ist also von grundsätzlicher Bedeutung: Verantwortung tragen alle, die von Gräueltaten wissen, mithelfen, ihre Chance auf Versetzung nicht ergreifen – egal, ob sie dabei eine Waffe oder einen Bleistift in der Hand haben.
Natürlich stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, dafür einen langen Prozess gegen einen sehr alten Menschen zu führen. Greise Täter vor Gericht, das weckt Mitleidsimpulse. Und bei Jüngeren vielleicht auch den Gedanken, dass man nie weiß, wie man selbst gehandelt hätte. Warum also mehr als 70 Jahre später gegen eine Frau verhandeln, die ihr Leben danach gelebt hat?
Weil es zuerst um die Opfer gehen muss. Auch um die Überlebenden, die selbst hochbetagt vor Gericht zu Wort kamen. Sie verdienen, dass Schuld auch von sogenannten Schreibtischtätern als Schuld benannt – und geahndet – wird. Deutschland ist erst jetzt so weit. Spät, aber das ist kein Argument dagegen. Auch geht es nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Um die Verständigung darauf, dass mündige Menschen Verantwortung für ihr Handeln tragen. Auch in barbarischen Zeiten. Und egal, an welchem Rädchen sie drehen.