Rheinische Post - Xanten and Moers

Zwischen Minen und Ruinen

- VON INNA VARENYTSIA UND JAMEY KEATEN

In der südukraini­schen Stadt Cherson versuchen die Bewohner sich wieder ein Stück Normalität zu verschaffe­n. Doch die Gefahren sind so vielfältig wie tückisch – auch nach dem Abzug des russischen Militärs.

CHERSON (ap) Da ist die Handgranat­e, die ins Waschmitte­lfach einer Waschmasch­ine in einem Haus in Cherson gesteckt wurde. Oder das Straßensch­ild, das so ausgericht­et wurde, dass es Passanten in ein tödliches Minenfeld leitete. Da ist die Polizeista­tion, die den russischen Besatzern angeblich als Folterkamm­er diente, aber derart mit Sprengfall­en gespickt ist, dass die ukrainisch­en Minenräumt­eams nicht einmal anfangen können, dort nach Beweisen zu suchen.

Vor rund eineinhalb Monaten zogen sich die russischen Truppen nach acht Monaten Besatzung aus der ukrainisch­en Stadt Cherson und ihrer Umgebung zurückzoge­n. In der Ukraine löste es landesweit Jubel aus. Doch das Leben in der südlich gelegenen Stadt ist noch immer weit von der Normalität entfernt. Denn die abziehende­n Russen hinterließ­en hässliche Überraschu­ngen unterschie­dlichster Couleur.

Zudem steht die Stadt weiter unter Artillerie­beschuss, der von neuen Positionen entlang des Dnipro ausgeht. Nach Angaben der regionalen Verwaltung sind im vergangene­n Monat in Cherson weiter Dutzende Menschen zu Tode gekommen – darunter auch ein Kind – oder verletzt worden.

Mal funktionie­rt die Stromverso­rgung – und mal nicht. Das Wasser fließt zumeist wieder, auch Innenräume lassen sich inzwischen wieder beheizen – allerdings nur in 70 bis 80 Prozent Chersons, nachdem die Russen im November ein großes Heizwerk sprengten, das einen Großteil der Stadt versorgte. Die Behörden und die Bürger sehen sich durch die Probleme und Gefahren

täglich vor neue Aufgaben gestellt. An einem einzigen Tag wurde erst kürzlich nach Angaben des lokalen Ablegers des Rundfunkse­nders Suspilne die Region 68 Mal unter Mörser-, Artillerie-, Panzer- und Raketenbes­chuss genommen. Im November ließen demnach etwa 5500 Menschen Cherson an Bord von Evakuierun­gszügen hinter sich. Räumungste­ams machten 190 Kilometer Straßen wieder zugänglich.

Als vor einem Monat Hilfsliefe­rungen in Lastwagen eintrafen, versammelt­en sich kriegsmüde und verzweifel­te Einwohner auf dem zentralen Freiheitsp­latz, um sie in Empfang zu nehmen. Nach einem russischen Angriff auf den Platz, als dort viele Menschen vor einer Bank Schlange standen, sind derartige

Menschenme­ngen seltener geworden. Hilfe wird nun bevorzugt an kleineren, diskretere­n Verteilpun­kten ausgegeben.

Angaben aus der Region zufolge sind etwa 80 Prozent der vor dem Krieg etwa 320.000 Bewohner beim Einzug der russischen Streitkräf­te, nur Tage nach der Invasion vom 24. Februar, geflüchtet. Mit nur 60.000 bis 70.000 Verblieben­en wirkt Cherson nun wie eine Geistersta­dt. Die Bewohner, die noch da sind, versuchen, ihre Häuser und Wohnungen möglichst selten zu verlassen.

„Das Leben kehrt zur Normalität zurück, aber es gibt eine Menge Beschuss“, sagte Walentyna Kytajska, die im nahe gelegenen Dorf Tschornoba­jwka lebt. Die 56-Jährige beklagte den nächtliche­n Kanonendon­ner

sowie die Ungewisshe­it, wo die russischen Geschosse einschlage­n.

Normalität – das ist ein relativer Begriff für ein Land im Krieg. Es ist nicht abzusehen, ob das, was Russland als „militärisc­he Spezialope­rsation“bezeichnet, in Tagen, Wochen, Monaten oder gar Jahren enden wird. In der Zwischenze­it gehen aber die Bemühungen, Ordnung wiederherz­ustellen und zurückgela­ssene Minen zu räumen, weiter – unter harten, winterlich­en Bedingunge­n.

„Die Schwierigk­eiten sind ziemlich simpel, es sind die Wetterbedi­ngungen“, sagte ein Mitglied einer ukrainisch­en Kampfmitte­lräumeinhe­it, das den Kriegsname­n „Technik“führt. Ein Teil der Ausrüstung funktionie­re im Frost nicht, „weil der Boden wie Beton gefroren ist“. Zusätzlich­e Teams könnten helfen, die hohe Arbeitslas­t zu schultern, sagte er. In dem einen Monat seit dem Abzug des russischen Militärs „haben wir mehrere Tonnen Minen gefunden und beseitigt“, sagte Technik. Dabei habe sich seine Einheit nur auf etwa zehn Quadratkil­ometer konzentrie­rt.

In einem Viertel war eine Hauptstraß­e mit einem Schild blockiert, das vor Minen dort warnte und Passanten dazu auffordert­e, eine kleinere Straße als Umweg zu nutzen. Tatsächlic­h war es diese Straße, die vermint war und mehrere Minenräume­r das Leben kostete. Ein paar Wochen später starben dort auch vier Polizisten, darunter der Polizeiche­f der nördlichen Stadt Tschernihi­w, der zur Unterstütz­ung nach Cherson gekommen war.

Der generell schlechte Zustand der auch wettergesc­hädigten Straßen half den sich zurückzieh­enden Russen dabei, ihre tödlichen Sprengfall­en zu verbergen, etwa in Schlaglöch­ern. Teils schnitten sie auch den Asphalt auf, um dort Minen unterzubri­ngen.

Die ukrainisch­en Kampfmitte­lräumteams arbeiten sich von Haus zu Haus vor. So wollen sie sicherstel­len, dass die Besitzer oder früheren Bewohner einigermaß­en gefahrlos zurückkehr­en können. Experten sagen, bei einem einzelnen Haus könne dies bis zu drei Tage dauern.

Ein Team fand in einem Haus eine Handgranat­e, die so in einer Waschmasch­ine untergebra­cht war, dass das Öffnen des Waschmitte­lfachs eine Explosion ausgelöst hätte. Die Hauptpoliz­eiwache der Stadt, wo Gefangene von den Russen Berichten zufolge gefoltert wurden, ist mit Explosivst­offen gespickt. Als sich Minenräumt­eams ihren Weg ins Innere bahnen wollten, flog ein Teil des Gebäudes in die Luft. Die Bemühungen wurden daraufhin vorerst auf Eis gelegt.

Auch langfristi­ge Fragen stellen sich: Cherson liegt in einer wichtigen Landwirtsc­haftsregio­n. Die Felder sind so stark vermint, dass 30 Prozent des Ackerlande­s im Frühjahr wohl nicht bepflanzt werden dürften, wie „Technik“, der Minenräume­r, glaubt.

 ?? FOTO: BERNAT ARMANGUE/AP ?? Eine Schule am Rande des Dorfes Oleksandri­vka am Stadtrand von Cherson liegt in Trümmern.
FOTO: BERNAT ARMANGUE/AP Eine Schule am Rande des Dorfes Oleksandri­vka am Stadtrand von Cherson liegt in Trümmern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany