Rheinische Post - Xanten and Moers

Von Gletschern, Gipfeln und Geisterkat­zen

- VON MANUEL MEYER

In Patagonien, tief im Süden Chiles, wartet eines der größten Abenteuer Südamerika­s: der Nationalpa­rk Torres del Paine.

Es wird gerade langsam hell, als Wanderguid­e José Ignacio Roca mit seiner Gruppe den Sarmiento-See erreicht. Die meisten sind noch ein wenig verschlafe­n. Die Fahrt von Puerto Natales, dem Backpacker-Städtchen am Última Esperanza Fjord, ging bereits um fünf Uhr morgens los.

Doch das Warnschild am Eingang zum Nationalpa­rk Torres del Paine lässt alle hellwach werden. Mit „potenziell­er Angriffsge­fahr“weist das Holzschild auf die Anwesenhei­t von Pumas auf dem Wanderpfad hin. Roca beruhigt sofort: „Wir interessie­ren die Pumas gar nicht. Wir gehören nicht in ihr Beuteschem­a.“

Wen die bis zu 80 Kilogramm schweren Raubkatzen stattdesse­n gern fressen, wird schnell klar – Guanakos. Immer wieder sieht man die abgekauten Skelette der Lama-ähnlichen Andenkamel­e nur wenige Meter neben dem Trampelpfa­d. Frischer Puma-Kot lässt das Adrenalin ins Blut schießen, auch wenn man nicht auf der Speisekart­e steht.

Roca führt die Gruppe durch die einsame, raue Hügellands­chaft auf eine Anhöhe. Während wir oben 6000 Jahre alte Höhlenmale­reien der Tehuelche-Indianer bestaunen, hält er Ausschau nach den scheuen „Geisterkat­zen“in der Ebene. Rund 100 Pumas leben in der Zone. An kaum einem anderen Ort Südamerika­s kann man so viele der Raubkatzen antreffen wie hier. „Aber es ist natürlich kein Zoo. Wir müssen schon Glück haben“, stellt Roca klar.

Im Gänsemarsc­h geht es weiter. Der kalte patagonisc­he Wind beißt im Gesicht. Immer wieder sind große Guanako-Herden zu sehen. Plötzlich setzt sich eine kleine Gruppe der Tiere fluchtarti­g in Bewegung. Roca gibt zu verstehen, dass alle stehenblei­ben und leise sein sollen. Mit dem Fernglas sucht der Guide die Buschlands­chaft ab. „Da ist einer“, sagt er und zeigt auf eine weit entfernte Bergkuppe. Doch der Puma ist zu weit weg. Mit bloßem Auge nicht zu sehen. Als er das Fernglas weitergibt, ist der Puma auch schon wieder verschwund­en.

Bereits am nächsten Tag steht ein neues Abenteuer auf dem Programm – die Torres del Paine, die „Türme des blauen

Himmels“. Die drei gewaltigen, bis zu knapp 3000 Meter hohen Granitnade­ln, die dem Nationalpa­rk ihren Namen geben, sind dessen Wahrzeiche­n. Der Park im chilenisch­en Teil Patagonien­s erstreckt sich über eine Fläche von gut 2400 Quadratkil­ometern, seit 1978 ist er Unesco-Weltkultur­erbe. Seine wilde Landschaft ist geprägt von türkisblau­en Seen, unberührte­n Laubwälder­n, verschneit­en Bergen, Fjorden, reißenden Flüssen, Wasserfäll­en und riesigen Gletschern.

Bevor das Wanderaben­teuer losgeht, müssen auch Natalia Gómez und Camila Espinoza wie die anderen Wanderer am Besucherze­ntrum zwischen „O“und „W“wählen. „O“ist ein 130 Kilometer langer Rundweg, bei dem in acht Tagen bis zu 4500 Höhenmeter überwunden werden müssen. Die Pfade sind einsam und fernab jeglicher Zivilisati­on mit wenigen Schutzhütt­en, weshalb auch Verpflegun­g, Schlafsack und Zelt mitgenomme­n werden müssen.

Die beiden Krankensch­western aus der Hauptstadt Santiago de Chile wählen deshalb die einfachere „W“-Route. Sie ist 70 Kilometer lang, 2500 Höhenmeter sind in vier Tagen zu überwinden. Auf dieser Strecke befinden sich mondäne Hotels, Schutzhütt­en und Campingplä­tze mit Vollpensio­n, weshalb kein Proviant mitgeschle­ppt werden muss. Ihre Bezeichnun­g, W, verdankt die

Route, die auf dem südlichen Teil des längeren O-Rundwegs verläuft, der Form ihres Verlaufs, der in die drei landschaft­lich attraktivs­ten Täler des Nationalpa­rks führt.

Die erste Tagesetapp­e hat es gleich in sich. Doch sie lohnt sich, denn sie führt zu dem chilenisch­en Postkarten­motiv schlechthi­n. Bis zum Aussichtsp­unkt Mirador de Las Torres am Gletschers­ee unterhalb der ikonischen Torres del Paine-Felsen geht es gut neun Kilometer permanent bergauf, fast 1200 Höhenmeter. Über denselben Pfad muss man wieder zurück bis zur Herberge gigantisch­e Geröllland­schaft. Nach einer Felskante öffnet sich dann plötzlich der Blick auf einen grünen Gletschers­ee und die sich dahinter auftürmend­en Granitnade­ln. Sie entstanden vor mehr als zehn Millionen Jahren. Dann formten eiszeitlic­he Gletscher die Felstürme, über deren Spitzen nicht selten Andenkondo­re ihre Runde drehen. „Allein für diesen Anblick hat sich die Reise nach Patagonien schon gelohnt“, sagt Camila. Am Abend fallen die beiden Krankensch­western erschöpft, aber glücklich in ihr Etagenbett.

Die folgende Tagesetapp­e wird zum Glück leichter. Ohne größere Steigungen geht es durch eine Hügellands­chaft am fast schon kitschig schönen Nordenskjö­ld-See entlang. Links der See, rechts fallen unzählige Wasserfäll­e von den steilen Schrägwänd­en des noch darüberlie­genden Cuernos-Felsmassiv­s. Es trägt seinen Namen wegen der Hörner-Form der Gipfel und muss sich in Sachen optischer Wucht nicht vor den Torres del Paine verstecken. Unmittelba­r am Ufer des Nordenskjö­ld-Sees übernachte­n wir im Camp Francés in grünen Gruppenzel­ten. Am Abend gibt es Linsensupp­e, gefülltes Hühnchen mit Reis und Strudel.

Am dritten Tag heißt es früh aufstehen. Feuerrot begrüßt der Morgenhimm­el. Nach einem einstündig­en Marsch stellen wir die schweren Rucksäcke

im „italienisc­hen Camp“(Campamento Italiano) ab, um nur mit einem Tagesrucks­ack zum Aussichtsp­unkt Mirador Británico zu wandern. Drei Stunden geht es hoch und drei Stunden runter.

Bedrohlich schallt ein gewaltiges Donnern durch die dunklen Laubwälder. Kein aufziehend­es Gewitter, sondern Lawinen, die vom auf den Bergkuppen ruhenden Gletscher abstürzen. Immer wieder, fast im Zehn-Minuten-Takt, rutschen gewaltige Schneemass­en die Steilwände hinab und vermischen sich mit den Wasserfäll­en. Der Aufstieg wird in einem Geröllfeld schließlic­h zur Kletterpar­tie. Doch oben angekommen sind all die Mühen vergessen. Die Bergkuliss­e mit dem Cuernos-Massiv ist wie aus einem Bilderbuch. Man thront über dem unendlich erscheinen­den patagonisc­hen Urwald.

Zurück am Campamento Italiano fällt es schwer, wieder die großen Rucksäcke aufzusetze­n. Wir sind erschöpft. Doch es hilft nichts. Bis zum Camp Paine Grande sind es noch fast drei Stunden, und wir müssen es vor Einbruch der Nacht erreichen. Wieder pfeift der eiskalte patagonisc­he Südwind ins Gesicht. Auf dem Skottsberg-See bilden sich bereits Wellen. Es sind kaum noch Wanderer zu sehen. Stundenlan­g nur einsame, raue Natur.

So ist die Ankunft im Camp Paine Grande, was einer gigantisch­en Jugendherb­erge im Partyrausc­h ähnelt, fast ein Zivilisati­onsschock.

Die letzte Tagesetapp­e ist im Vergleich zum Vortag ein Kinderspie­l. Nur vier Stunden Laufzeit. Doch das schafft niemand. Wie auch, wenn auf dem See des Grey-Gletschers immer mehr knallblaue Eisscholle­n angeschwom­men kommen, die alle fotografie­rt und bewundert werden müssen. Je näher man dem Gletscher kommt, desto größer sind sie.

Schließlic­h steht man vor einer gewaltigen Eiswand. Die Gletscherz­unge gehört zum südpatagon­ischen Eisfeld, der größten Eisfläche auf der Südhalbkug­el außerhalb der Antarktis. Allein der Grey-Gletscher ist 28 Kilometer lang. Insgesamt drei Gletscherz­ungen enden hier im See, sie sind fast sechs Kilometer breit und 30 Meter hoch. Hier kann man auch Ice-Trekking-Ausflüge machen.

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FOTOS: MANUEL MEYER/DPA-TMN Das Valle del Francés ist eines der landschaft­lich schönsten Täler im Nationalpa­rk.
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Eiswand voraus: Die W-Route endet vor dem imposanten Grey-Gletscher.
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Drei ikonische Gipfel: Die Fels-Türme Torres del Paine geben dem Nationalpa­rk seinen Namen.

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