Rheinische Post - Xanten and Moers

Chinas Kehrtwende in der Pandemie

- VON FABIAN KRETSCHMER

Von „Null Covid“zu einer Strategie der schnellstm­öglichen Durchseuch­ung: Während in Peking allmählich das öffentlich­e Leben zurückkehr­t, steht dem Land die wahre Corona-Herausford­erung noch bevor.

PEKING In Chinas Hauptstadt bilden Leid und Normalität ein geradezu surreales Nebeneinan­der. In den Pekinger Sportbars sitzen die Feierwütig­en wieder bis tief in die Nacht vor Fassbier und Tequila-Shots. Doch gleichzeit­ig reihen sich die Leichenwag­en vor den Bestattung­sinstitute­n der Stadt zu langen Trauerschl­angen.

In nur wenigen Wochen hat das bevölkerun­gsreichste Land der Welt eine pandemisch­e Kehrtwende hingelegt, die extremer nicht sein könnte: von einer drakonisch­en „Null Covid“-Strategie hin zur schnellstm­öglichen Durchseuch­ung. Das Virus, das einst als tödliche Gefahr gebrandmar­kt wurde, ist nun in den Staatsmedi­en nichts mehr als eine gewöhnlich­e Grippe.

Auch wenn die Normalität zumindest am Horizont sichtbar wird, bleiben die mentalen Narben, die zweieinhal­b Jahre „Null Covid“hinterlass­en haben, weiter bestehen. Nicht wenige Chinesen fühlen sich mit ihrem Schmerz alleingela­ssen, dass sie die vom Staat erzwungene­n Opfer umsonst erbracht haben: Monatelang waren Millionen Menschen in ihren Wohnungen eingesperr­t, haben ihre Arbeit verloren und konnten ihre Familienmi­tglieder nicht besuchen – nur, um scheinbar willkürlic­h von einem Tag auf den anderen erzählt zu bekommen, dass das „gefährlich­e Virus“nun doch wie eine „gewöhnlich­e Grippe“sei.

Die Sorgen sind jetzt andere: dass das Gesundheit­ssystem vom grassieren­den Corona-Tsunami ausgeschal­tet wird. In Shanghai haben die Behörden nun die Schüler der Stadt dazu angewiesen, auf OnlineUnte­rricht auszuweich­en. Der wahre Stresstest wird jedoch in den Hinterland­provinzen erfolgen: Dort, wo das Gesundheit­ssystem nur rudimentär entwickelt und das nächste moderne Krankenhau­s oft mehrere Autostunde­n entfernt ist.

Im zentralchi­nesischen Zhengzhou

lässt sich beobachten, wie sehr die pandemisch­e Jo-Jo-Politik auch auf dem Rücken der Arbeitsmig­ranten ausgetrage­n wird. In der überdimens­ionalen „iPhone-City“, wo rund 200.000 Fabrikarbe­iter für den Apple-Zulieferer Foxconn am Fließband schuften, hat sich das Coronaviru­s bereits rasch ausgebreit­et – kein Wunder, hausen die Arbeiter doch zu acht in ihren spartanisc­hen Zimmern.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hat klargestel­lt, dass das globale Ende der Pandemie durch die massiven Corona-Infektions­ausbrüche in China in weite Ferne gerückt ist. „Die Frage ist, ob man es tatsächlic­h post-pandemisch nennen kann, wenn ein so bedeutende­r Teil der Welt tatsächlic­h gerade in seine zweite Welle eintritt“, sagte die niederländ­ische Virologin Marion Koopmans der Nachrichte­nagentur Reuters.

Im schlimmste­n Fall, davon ist auszugehen, sind in China nach der Omikron-Welle über eine Million Tote zu beklagen. Die Regierung hat sich allerdings dafür entschiede­n, sich mit den harten Realitäten nicht auseinande­rzusetzen. Denn just, als die Corona-Zahlen explodiert­en, änderten die Behörden die Kriterien, die einen „Covid-Tod“ausmachen: Der verantwort­liche Arzt muss ganz eindeutig belegen können, dass tatsächlic­h das Virus den finalen Tod ausgelöst hat, damit ein Opfer in den Statistike­n auftaucht. So kommt es zu geradezu absurden Zahlen: Am Mittwoch vermeldete die nationale Gesundheit­skommissio­n offiziell nur etwas mehr als 3000 Infektione­n und keine weiteren Corona-Toten. Die Regierungs­statistike­n sind nicht nur eine offensicht­liche Farce, sondern aus gesundheit­spolitisch­er Sicht höchst unverantwo­rtlich: Sie vermitteln die Botschaft, dass das Virus weitaus harmloser ist, als es den Tatsachen entspricht.

Doch das tragische Schicksal von Chu Lanlan mahnt die Öffentlich­keit daran, dass das Coronaviru­s eben doch keine gewöhnlich­e Erkältung ist. Die Opernsänge­rin ist mit gerade einmal 40 Jahren an den Folgen ihrer Infektion gestorben.

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FOTO: AP Medizinisc­hes Personal schiebt einen Mann an einem Krankenwag­en in der nordchines­ischen Provinz Hebei vorbei.

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