Rheinische Post - Xanten and Moers
Das Jahr der Hilfe
2022 gab es viele Krisen, doch auch viel Anteilnahme und Beistand. Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass aus spontaner Betroffenheit eine gesellschaftliche Kraft wird. Da kommt ein altes Konzept zu neuen Ehren.
In Krisenzeiten erleben viele, dass der Einzelne sein Glück nicht selbst in der Hand hat. Wenn Hochwasser das Zuhause wegspült, ein Krieg das Leben bedroht oder zur Flucht treibt, wenn Inflation Alltagsgewohnheiten infrage stellt und der Klimawandel die Qualität des Lebens, dann brauchen Menschen einander, machen sie die Erfahrung, dass vieles nur gemeinsam geht. Und dass das kein Zeichen von Schwäche ist, sondern sich eigentlich gut anfühlt. Zu helfen und Hilfe zu erfahren, ist die vielleicht wirksamste Art, Leute zu verbinden.
2022 war ein hilfreiches Jahr. Ungezählte in Europa haben sich engagiert, als Russland die Ukraine angriff. Viele haben sich Leid und Not nicht verschlossen, haben sich persönlich verwickeln lassen, Wohnraum geöffnet, gespendet. Und tun das bis heute.
Diese Dauerhaftigkeit ist bemerkenswert. Spontane Hilfsbereitschaft entsteht oft aus dem Gefühl der Betroffenheit. Man stellt sich vor, wie es wäre, selbst auf die Flucht zu müssen. Kognitive Empathie, das Hineinversetzen auf Verstandesebene, ist bei Notlagen einfach und bewirkt auf emotionaler Ebene leicht einen Überschwang an Mitgefühl. Dann türmen sich die Spendenberge, Helfer stehen Schlange. Doch wenn aus solchen positiven Reflexen ein belastbares Kümmern wird – trotz der zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, die früher oder später immer auftreten –, dann wird aus spontaner Hilfsbereitschaft eine gesellschaftliche Kraft.
Darum ist der Einsatz so vieler Privatpersonen in diesem Jahr keine private Sache. Das Kleine macht einen Unterschied im Großen. Denn natürlich fühlt es sich anders an, in einer Gesellschaft zu leben, in der es eingeübte Praxis ist, sich umeinander zu kümmern. In der es Vereine, Gemeinden, Organisationen, Nachbarschaften gibt, die bei Bedarf schnell aktiv werden. Eine private Infrastruktur der Empathie.
Denn es gibt nun mal auch Länder, in denen Menschen über Jahrzehnte die Erfahrung machen, dass es nutzlos, gar gefährlich ist, sich über den Kreis der Familie hinaus zu engagieren – und die Probleme anderer zur eigenen Sache zu machen. Die Bürger in solchen Staaten sind keine schlechteren Menschen, sie leben ohne den Freiraum, den Solidarität braucht. Und der von autoritären Kräften attackiert wird, weil sie die gute Macht des Miteinanders fürchten. Auch das ist bedenkenswert am Ende dieses Jahres.
Immer wieder beschäftigt sich auch die Wissenschaft mit Empathie und untersucht die Fähigkeit, sich in die Empfindungen anderer einzufühlen und etwa mit Kooperation zu reagieren. Es steckt ja etwas Widersprüchliches darin, dass Menschen freiwillig Geld oder Zeit abgeben und sich dadurch reicher fühlen. Oder dass eine Notlage sie zwingt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, und diese Erfahrung sie stärkt. Einfühlungsvermögen kann Menschen aktivieren, darum ist es eine wichtige Ressource. Und genau das wird von Forschern untersucht.
Laut einer EU-weiten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung etwa zeigt eine Mehrheit von 55 Prozent der Europäerinnen und Europäer viel Empathie. Es gibt allerdings Unterschiede. So ist das Maß an Empathie in Italien und Spanien besonders ausgeprägt, in nordeuropäischen Staaten am geringsten, Deutschland liegt mit 49 Prozent hoher Empathiewerte im Mittelfeld. Da spiegelt sich vermutlich, dass starke Sozialstaaten den Einzelnen unabhängiger machen, während Menschen in ärmeren Gesellschaften häufiger die Erfahrung machen, aufeinander angewiesen zu sein. Eine amerikanische Studie belegt, dass Empathie zudem ein Erfolgsfaktor
in Unternehmen ist. Laut einer Umfrage der Organisation Catalyst unter 900 Angestellten in den USA, welche Fähigkeiten ihnen im Arbeitsumfeld am meisten helfen und welche sie bei Vorgesetzten besonders schätzen, nannten die meisten eben nicht Schläue, strategisches Denken, Durchsetzungskraft, sondern Empathie.
Allerdings geht es bei Einfühlungsvermögen nicht um Gefühligkeit. Sonst wird aus Anteilnahme nur sentimentale Regung, die schnell wieder vergeht. Unterstützung muss auf etwas Belastbarerem beruhen, um eine Gesellschaft verlässlich zu durchdringen. Der Soziologe Norbert Bude hat darum den alten Begriff der Solidarität wiederbelebt – und neu bestimmt. Denn er glaubt, dass es Solidarität heute nur noch durch „das Nadelöhr des Ichs“gibt. Das heißt, Menschen reagieren nicht mehr auf Appelle. Das hat auch die Wirkungslosigkeit der inflationären Solidaritätsappelle während der Pandemie gezeigt. Sie schließen sich heute auch seltener Gruppen an, die sich der Solidarität verpflichtet haben, sondern sie werden aktiv, wenn ein individuelles Motiv sie antreibt.
Dieses Motiv sieht Bude vor allem in der persönlichen Erfahrung, dass es ein Selbstbetrug ist, alles alleine schaffen zu wollen. Nur wer im Leben einmal gespürt habe, dass er eben nicht allein „seines Glückes Schmied“sei, sondern bisweilen auf die Hilfe anderer angewiesen ist, trage die Bereitschaft in sich, selbst auch solidarisch zu sein. Für Bude ist Solidarität also etwas Wechselseitiges, das auf der Erkenntnis fußt, dass der Mensch nur in verlässlichen Bezügen gut leben kann.
Sich zu kümmern, wäre dann ein Mittel, nicht zu verkümmern. Also nicht nur eine Methode zur Bewältigung von Krisen, sondern eine Lebenseinstellung – aus eigenem Interesse. Weil es bereichert, sich auf das Abenteuer gegenseitiger Unterstützung einzulassen. Nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern aus einer fundamentalen Einsicht: dass Helfen bereichert.
In Südeuropa ist Empathie stark ausgeprägt, im Norden eher schwach