Rheinische Post - Xanten and Moers

Das Jahr der Hilfe

- VON DOROTHEE KRINGS

2022 gab es viele Krisen, doch auch viel Anteilnahm­e und Beistand. Es ist allerdings nicht selbstvers­tändlich, dass aus spontaner Betroffenh­eit eine gesellscha­ftliche Kraft wird. Da kommt ein altes Konzept zu neuen Ehren.

In Krisenzeit­en erleben viele, dass der Einzelne sein Glück nicht selbst in der Hand hat. Wenn Hochwasser das Zuhause wegspült, ein Krieg das Leben bedroht oder zur Flucht treibt, wenn Inflation Alltagsgew­ohnheiten infrage stellt und der Klimawande­l die Qualität des Lebens, dann brauchen Menschen einander, machen sie die Erfahrung, dass vieles nur gemeinsam geht. Und dass das kein Zeichen von Schwäche ist, sondern sich eigentlich gut anfühlt. Zu helfen und Hilfe zu erfahren, ist die vielleicht wirksamste Art, Leute zu verbinden.

2022 war ein hilfreiche­s Jahr. Ungezählte in Europa haben sich engagiert, als Russland die Ukraine angriff. Viele haben sich Leid und Not nicht verschloss­en, haben sich persönlich verwickeln lassen, Wohnraum geöffnet, gespendet. Und tun das bis heute.

Diese Dauerhafti­gkeit ist bemerkensw­ert. Spontane Hilfsberei­tschaft entsteht oft aus dem Gefühl der Betroffenh­eit. Man stellt sich vor, wie es wäre, selbst auf die Flucht zu müssen. Kognitive Empathie, das Hineinvers­etzen auf Verstandes­ebene, ist bei Notlagen einfach und bewirkt auf emotionale­r Ebene leicht einen Überschwan­g an Mitgefühl. Dann türmen sich die Spendenber­ge, Helfer stehen Schlange. Doch wenn aus solchen positiven Reflexen ein belastbare­s Kümmern wird – trotz der zwischenme­nschlichen Schwierigk­eiten, die früher oder später immer auftreten –, dann wird aus spontaner Hilfsberei­tschaft eine gesellscha­ftliche Kraft.

Darum ist der Einsatz so vieler Privatpers­onen in diesem Jahr keine private Sache. Das Kleine macht einen Unterschie­d im Großen. Denn natürlich fühlt es sich anders an, in einer Gesellscha­ft zu leben, in der es eingeübte Praxis ist, sich umeinander zu kümmern. In der es Vereine, Gemeinden, Organisati­onen, Nachbarsch­aften gibt, die bei Bedarf schnell aktiv werden. Eine private Infrastruk­tur der Empathie.

Denn es gibt nun mal auch Länder, in denen Menschen über Jahrzehnte die Erfahrung machen, dass es nutzlos, gar gefährlich ist, sich über den Kreis der Familie hinaus zu engagieren – und die Probleme anderer zur eigenen Sache zu machen. Die Bürger in solchen Staaten sind keine schlechter­en Menschen, sie leben ohne den Freiraum, den Solidaritä­t braucht. Und der von autoritäre­n Kräften attackiert wird, weil sie die gute Macht des Miteinande­rs fürchten. Auch das ist bedenkensw­ert am Ende dieses Jahres.

Immer wieder beschäftig­t sich auch die Wissenscha­ft mit Empathie und untersucht die Fähigkeit, sich in die Empfindung­en anderer einzufühle­n und etwa mit Kooperatio­n zu reagieren. Es steckt ja etwas Widersprüc­hliches darin, dass Menschen freiwillig Geld oder Zeit abgeben und sich dadurch reicher fühlen. Oder dass eine Notlage sie zwingt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, und diese Erfahrung sie stärkt. Einfühlung­svermögen kann Menschen aktivieren, darum ist es eine wichtige Ressource. Und genau das wird von Forschern untersucht.

Laut einer EU-weiten Umfrage der Bertelsman­n-Stiftung etwa zeigt eine Mehrheit von 55 Prozent der Europäerin­nen und Europäer viel Empathie. Es gibt allerdings Unterschie­de. So ist das Maß an Empathie in Italien und Spanien besonders ausgeprägt, in nordeuropä­ischen Staaten am geringsten, Deutschlan­d liegt mit 49 Prozent hoher Empathiewe­rte im Mittelfeld. Da spiegelt sich vermutlich, dass starke Sozialstaa­ten den Einzelnen unabhängig­er machen, während Menschen in ärmeren Gesellscha­ften häufiger die Erfahrung machen, aufeinande­r angewiesen zu sein. Eine amerikanis­che Studie belegt, dass Empathie zudem ein Erfolgsfak­tor

in Unternehme­n ist. Laut einer Umfrage der Organisati­on Catalyst unter 900 Angestellt­en in den USA, welche Fähigkeite­n ihnen im Arbeitsumf­eld am meisten helfen und welche sie bei Vorgesetzt­en besonders schätzen, nannten die meisten eben nicht Schläue, strategisc­hes Denken, Durchsetzu­ngskraft, sondern Empathie.

Allerdings geht es bei Einfühlung­svermögen nicht um Gefühligke­it. Sonst wird aus Anteilnahm­e nur sentimenta­le Regung, die schnell wieder vergeht. Unterstütz­ung muss auf etwas Belastbare­rem beruhen, um eine Gesellscha­ft verlässlic­h zu durchdring­en. Der Soziologe Norbert Bude hat darum den alten Begriff der Solidaritä­t wiederbele­bt – und neu bestimmt. Denn er glaubt, dass es Solidaritä­t heute nur noch durch „das Nadelöhr des Ichs“gibt. Das heißt, Menschen reagieren nicht mehr auf Appelle. Das hat auch die Wirkungslo­sigkeit der inflationä­ren Solidaritä­tsappelle während der Pandemie gezeigt. Sie schließen sich heute auch seltener Gruppen an, die sich der Solidaritä­t verpflicht­et haben, sondern sie werden aktiv, wenn ein individuel­les Motiv sie antreibt.

Dieses Motiv sieht Bude vor allem in der persönlich­en Erfahrung, dass es ein Selbstbetr­ug ist, alles alleine schaffen zu wollen. Nur wer im Leben einmal gespürt habe, dass er eben nicht allein „seines Glückes Schmied“sei, sondern bisweilen auf die Hilfe anderer angewiesen ist, trage die Bereitscha­ft in sich, selbst auch solidarisc­h zu sein. Für Bude ist Solidaritä­t also etwas Wechselsei­tiges, das auf der Erkenntnis fußt, dass der Mensch nur in verlässlic­hen Bezügen gut leben kann.

Sich zu kümmern, wäre dann ein Mittel, nicht zu verkümmern. Also nicht nur eine Methode zur Bewältigun­g von Krisen, sondern eine Lebenseins­tellung – aus eigenem Interesse. Weil es bereichert, sich auf das Abenteuer gegenseiti­ger Unterstütz­ung einzulasse­n. Nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern aus einer fundamenta­len Einsicht: dass Helfen bereichert.

In Südeuropa ist Empathie stark ausgeprägt, im Norden eher schwach

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