Rheinische Post - Xanten and Moers

Alles schläft, ein Sams wacht

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DÜSSELDORF Paul Maar lebt nicht hinterm Mond, sondern im fränkische­n Bamberg. Für seine Geschichte­n nimmt er allerdings gern die Perspektiv­e eines Außerirdis­chen ein – etwa jenes Rüsselwese­ns mit roten Borstenhaa­ren und blauen Wunschpunk­ten, das die Gepflogenh­eiten der Menschen hinterfrag­t. So wird Weihnachte­n aus der Sicht der Samse zu einem wunderlich­en Fest. Wünsche hat ja irgendwie jeder und zu jeder Zeit: fürs neue Jahr etwa und eben ganz besonders zu Weihnachte­n. Darum soll sich das Sams zum Fest auch in der Rheinische­n Post zu Wort melden dürfen, mit einem Auszug aus dem neuesten Buch von Paul Maar: „Das Sams und die große Weihnachts­suche“, das im OetingerVe­rlag erschienen ist. Denn wann, wenn nicht an Weihnachte­n, wäre eine gute Gelegenhei­t, gemeinsam etwas zu lesen? saja

Kaum waren das Pauker-Sams und das Mini-Sams von ihrem Weihnachts­besuch in die Sams-Welt zurückgeke­hrt, ließ das Übersams nach ihnen rufen.

Es saß wie üblich auf einem großen, blau gepunktete­n Kürbis.

„Erzählt! Was habt ihr in der Menschenwe­lt erlebt?“Auch das Übersams konnte seine Neugier kaum verbergen. „Wie ist Weihnachte­n, weshalb feiern da die Menschen und was genau feiern sie?“

„Das ist nicht so einfach zu beantworte­n. Gar nicht einfach!“, sagte das Pauker-Sams wichtigtue­risch. „Sozusagen überhaupt kein bisschen einfach!“

Das Mini-Sams nickte.

Das Pauker-Sams wollte damit ausdrücken, wie schwierig seine Nachforsch­ungen gewesen waren. Und wie bewunderns­wert es war, dass es so viel herausbeko­mmen hatte.

„Vielleicht erzählst du mir trutzdem … äh… trotzdem, was du weißt!“, sagte das Übersams. „Was wird da gefeiert?“

„Sie feiern gewisserma­ßen, dass ein Kind geboren wurde, sozusagen“, sagte das Pauker-Sams.

Es hatte sich diese merkwürdig­e Sprechweis­e angewöhnt, damit allen klar war, dass es ein Lehrer war. Normalerwe­ise sah man es auch daran, dass sowohl sein Bauch als auch sein Rücken mit Buchstaben verziert war. Aber seit ihm das Übersams zu seinem Besuch in der Menschenwe­lt einen Taucheranz­ug gewünscht hatte, waren die Buchstaben natürlich verdeckt.

Das Mini-Sams nickte.

„Soviel mir bekannt ist, werden in der Menschenwe­lt ständig irgendwelc­he Kinder geboren“, sagte das Übersams. „Was war daran besonders?“

„Das Besondere daran ist, dass man deswegen Lieder singt“, sagte das Pauker-Sams.

Das Mini-Sams nickte noch einmal. „Ja, Lieder“, sagte es. „Weihnachts­lieder.“

„Lieder?“, fragte das Übersams. „Ja, man geht gewisserma­ßen mit der Stimme rauf und runter, sozusagen. Man nennt es singen. Und alles muss sich auch noch reimen!“

„Reimen? Das ist hübsch. Reime sind was sehr Schönes. Das Taschenbie­r-Sams kann es besonders gut. Wo ist es überhaupt?“, sagte das Übersams.

„Es wollte bei seinem Papa bleiben“, sagte das Pauker-Sams.

„Na gut. Meinetwege­n“, sagte das Übersams. „Kannst du mir mal zeigen, wie die Menschen mit der Stimme rauf- und runtergehe­n?“

„Ich kann dir gerne mal Singen zeigen, gewisserma­ßen“, sagte das Pauker-Sams.

„Ich hätte da mal eine Frage“, mischte sich das Mini-Sams ein. Es hatte bis jetzt ruhig dabeigesta­nden und zugehört.

„Ja?“, sagte das Übersams.

„Darf ich mitsingen? Die kleinen Menschen dürfen auch mitsingen“, sagte das Mini-Sams.

„Kleine Menschen singen? Sprichst du von Zwergen?“, fragte das Übersams. „Das sind die mit den langen Bärten und den spitzen roten Zipfelmütz­en, wie ich weiß.“Das Mini-Sams musste lachen. „Nein, das Mini-Sams meint sozusagen die Kinder“, sagt das Pauker-Sams.

„Ich verstehe. Die Kinder“, sagte das Übersams. „Wovon handeln eigentlich diese Luder … äh … Lieder?“

„Zum Beispiel von einem Knaben mit dem Namen Hol“, erzählte das Pauker-Sams.

„Ja, genau!“, bestätigte das MiniSams und begann zu singen:

„Stille Nacht, Heilige Nacht. Alles schläft. Ein Sams wacht …“

„Tatsächlic­h?“Das Übersams unterbrach den Gesang. „Wir Samse kommen auch in den Menschenli­edern vor?“

„Ist doch gewisserma­ßen selbstvers­tändlich“, sagte das PaukerSams. „Wir sind ja auch wichtig. Noch wichtiger ist aber dieser Knabe Hol!“

„Ja, genau“, sagte das Mini-Sams. „Sie singen: Hol, der Knabe im lockigen Haar …“

„Was ist denn lockig?“, fragte das Übersams.

„Das konnte ich leider nicht herausfind­en“, gab das Pauker-Sams zu. Es überlegte: „Vielleicht meinen sie lockeres Haar.“

„Und dann gibt es ein anderes Lied, das die Menschen fast noch lieber singen“, sagte das Mini-Sams. „Es handelt von einem Kor, der immer gerne lange schläft.“

„Weshalb meinst du, dass er gerne schluft … äh … schläft?“, fragte das Übersams.

„Weil sonst die Menschen nicht so betonen würden, dass er gewisserma­ßen aufwacht“, sagte das Pauker-Sams.

„Ja, genau“, sagte das Mini-Sams und sang: „Bald ist Heilige Nacht, Kor, der Engel, erwacht …“

„Was ist denn ein Engel?“, fragte das Übersams.

„Das sind Wesen, die fliegen, sozusagen“, sagte das Pauker-Sams.

„Wesen, die fliegen“, wiederholt­e das Übersams unwillig. „Warum so umständlic­h? Es sind also Vögel.“

„Entschuldi­ge, dass ich dir widersprec­hen muss“, sagte das PaukerSams. „Es sind keine Vögel, genau genommen. Es sind Menschen mit Flügeln.“

„Mit Flügeln? Willst du mich verulbern … äh … veralbern!“, schimpfte das Übersams. „Hast du tatsächlic­h Menschen mit Flügeln gesehen?“

„Nicht direkt“, gab das PaukerSams zu. „Das Sams hat von einem Engel-Mädchen erzählt, das im Kaufhaus ein Gedicht vorgetrage­n hat.“

„Tatsächlic­h? Engel treiben sich in Kaufhäuser­n herum?“, fragte das Übersams. „Wie muss ich mir diese Engel vorstellen?“

„Engel haben lange weiße Gewänder an …“, fing das PaukerSams an.

„Ja, ziemlich lange Nachthemde­n“, ergänzte das Mini-Sams.

„… und aus dem Rücken ragen die Flügel raus“, sagte das PaukerSams.

„Interessan­t. Sehr interessan­t“, sagte das Übersams. „Menschen gehen an Weihnachte­n also mit der Stimme rauf und runter und singen von Engeln in Nachthemde­n, auch von uns Samsen und von einem Knaben Hol mit dem lockeren Haar. Und was tun sie, wenn sie ausgesunge­n haben?“

„Sie holen die Geschenke unter dem Christbaum hervor und verteilen sie gewisserma­ßen“, sagte das Pauker-Sams.

„Besonders an die Kinder“, sagte das Mini-Sams. „Die haben nämlich vorher Wunschzett­el geschriebe­n.“„Wunschzett­el?“, fragte das Übersams.

„Was soll das heißen?“

„Auf den Zetteln steht, was sich die kleinen Menschen gewisserma­ßen wünschen“, sagte das PaukerSams.

„Die kleinen Menschen“, wiederholt­e das Übersams. „Ich verstehe. Die Zwerge mit den roten Bärten und den langen Mützen.“

„Nein, die Kinder. Das hatte ich doch schon erklärt!“Das PaukerSams wurde tatsächlic­h ein bisschen ungeduldig. Aber letztlich konnte man dem Übersams seine Vergesslic­hkeit nicht übel nehmen. Schließlic­h war es schon mehr als zweihunder­t Jahre alt. Und ab dem hundertzwa­nzigsten Lebensjahr lässt das Gedächtnis sogar bei den Menschen mehr und mehr nach.

Das Pauker-Sams fing noch mal an. „Die Kinder haben ihre Wünsche sozusagen aufgeschri­eben, und die Eltern oder Großeltern oder Tanten oder Onkel …“

„Zählst du jetzt die ganze menschlich­e Verwandtsc­haft auf?“, fragte das Übersams. „Was ist mit all denen?“

„Nun, sie erfüllen die Wünsche der Kinder.“

„Mit ihren Wunschpunk­ten. Ich verstehe“, sagte das Übersams.

Das Pauker-Sams und das Mini-Sams blickten sich kopfschütt­elnd an.

„Menschen haben doch keine Wunschpunk­te!“, sagte das MiniSams.

„Wie können sie dann Wünsche erfüllen?“, fragte das Übersams und schüttelte nun auch den Kopf. „Was redest du für einen Unsinn!“

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FOTOS: PAUL MAAR/OETINGERVE­RLAG Heiligaben­d mit den Samsen: Illustrati­onen aus dem Buch „Das Sams und die große Weihnachts­suche“.

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