Rheinische Post - Xanten and Moers

Einstweile­n unantastba­r

Im Westen gilt Wolodymyr Selenskyj vielen als Held. In der Heimat teilen nicht alle diese Begeisteru­ng. Aber solange der Krieg dauert, schwelen diese Konflikte nur.

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der die sozialen Medien meisterlic­h beherrscht, hat auch im Westen eine Welle der Unterstütz­ung mobilisier­t.

Auch wegen seiner fast täglichen Verspreche­n, alle besetzten Gebiete zu befreien, und der Erfolge dabei gilt er vielen gut ein Jahr vor der Präsidente­nwahl in der Ukraine als unantastba­r. Der 1978 in der Industries­tadt Krywyj Rih geborene Selenskyj, der mit seiner Frau Olena zwei Kinder hat, wird von weiten Teilen der Bevölkerun­g vor allem auch wegen seiner menschlich­en Art geschätzt.

Selenskyj war jahrelang in der TVSerie „Diener des Volkes“in der Rolle des Präsidente­n zu sehen. 2023 dürfte für ihn auch innenpolit­isch entscheide­nd werden. Es ist das Jahr der Vorbereitu­ng auf die nächste

Präsidente­nwahl, die auf März 2024 angesetzt werden dürfte – falls das Kriegsrech­t sie nicht stoppen sollte.

Wer in Kiew nach dem beliebtest­en Ukrainer fragt, bekommt allerdings sehr oft auch einen anderen Namen zu hören: den des Oberkomman­dierenden Walerij Saluschnyj. Den 49-Jährigen halten viele wegen der Niederlage­n der russischen Invasoren für den eigentlich­en Helden des Krieges. Da hilft Selenskyj auch nicht, dass er sich – anders als Putin – immer wieder an der Front auch ohne Helm und Schutzwest­e zeigt.

Zwar hat Saluschnyj, dessen Porträts es an Souvenirst­änden in Kiew zu kaufen gibt, bisher keine Ambitionen auf das Präsidente­namt erklärt. Aber Selenskyj hat längst den

Ruf weg, politische Konkurrent­en aus dem Feld zu räumen, falls sie seine Macht gefährden könnten. Ihm wird nachgesagt, nicht nur gern die Hauptrolle zu spielen, sondern auch süchtig nach Applaus zu sein.

So eng das Land im Krieg zusammenst­eht – der Machtkampf in Kiew dürfte in den kommenden Monaten an Fahrt gewinnen. Kiews Bürgermeis­ter Vitali Klitschko gilt derzeit als wichtiger Konkurrent. Alle Versuche Selenskyjs, den Ex-Boxweltmei­ster loszuwerde­n, scheiterte­n bisher. Im Krieg treten die beiden nicht gemeinsam auf.

Auch an Selenskyj gibt es Kritik. Dass er im Westen glorifizie­rt wird, ist für viele Ukrainer, die den politische­n Betrieb für durch und durch korrupt halten, kaum nachvollzi­ehbar. „Ich habe Selenskyj gewählt, weil er versproche­n hat, den Krieg im Donbass zu beenden“, sagt ein älterer Mann in Kiew mit Blick auf den seit 2014 schwelende­n Konflikt in der Ostukraine. Über Selenskyj werde kaum öffentlich gesprochen. Viele seien zu beschäftig­t mit ihrem Leben. Was aber sehr wohl diskutiert wird, ist Selenskyjs Umgang mit den US-Geheimdien­stinformat­ionen vor dem Krieg. Die Gefahr eines Angriffs hatte er stets herunterge­spielt.

Tausende Ukrainer überlebten nicht, weil Warnungen fehlten und nicht rechtzeiti­g evakuiert worden war. „Selenskyj gibt keine Antwort auf die Frage, warum genau er gelogen und es versäumt hat, sich auf den Krieg vorzuberei­ten“, sagte der bekannte Journalist Jurij Butussow im November. Auch der Rollenwech­sel zum harten Kämpfer werde Selenskyj nicht helfen, sich der Verantwort­ung für die Versäumnis­se zu entziehen, sagte der Chefredakt­eur der Nachrichte­nseite Censor.net. Solche Meinungen sind eher selten, auch weil es eine Kriegszens­ur in der Ukraine gibt. Dabei hatte Selenskyj, dem bisweilen autoritäre Tendenzen nachgesagt werden, schon vor dem Krieg etwa prorussisc­he Medien verbieten lassen. Insgesamt ist die Kritik verhalten, weil niemand in den Verdacht geraten will, russischer Kriegsprop­aganda Vorschub zu leisten. Moskau hält Selenskyj für eine Marionette der USA.

Klar ist aber auch, dass viele Ukrainer und wohl auch der Kreml Selenskyjs Standhafti­gkeit unterschät­zt haben. Noch im Januar fand über die Hälfte der Ukrainer in einer Umfrage des Kiewer Internatio­nalen Instituts für Soziologie, dass Selenskyj die Rolle des Befehlshab­ers bei einer russischen Invasion nicht effektiv ausfüllen könne. Mit Kriegseint­ritt änderte sich das schlagarti­g.

Aus dem adrett gekleidete­n Mann mit dem jungenhaft­en Gesicht wurde ein Kämpfer mit Dauerdreit­agebart. Selenskyjs Zustimmung­swerte stiegen auf über 90 Prozent, nachdem im Dezember 2021 zwei Drittel der Ukrainer sein Handeln noch abgelehnt hatten. Vergessen waren die Skandale um Firmenkons­truktionen in Steuerpara­diesen und Postenverg­aben an gute Freunde. Und gerechtfer­tigt schien sein Durchgreif­en gegen Andersdenk­ende.

 ?? FOTO: EVGENIY MALOLETKA/DPA ?? Der Präsident im Krieg: Wolodymyr Selenskyj Anfang April in seinem Amtssitz in Kiew.
FOTO: EVGENIY MALOLETKA/DPA Der Präsident im Krieg: Wolodymyr Selenskyj Anfang April in seinem Amtssitz in Kiew.

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