Rheinische Post - Xanten and Moers

Schneller in die Therapie

- VON JANA MARQUARDT

Wer psychisch leidet, muss sich meist mehrere Wochen bis zu einem Erstgesprä­ch gedulden. Drei junge Leute aus Aachen haben das teils selbst erlebt und wollen die Situation verbessern – mit einem digitalen Gruppenang­ebot.

AACHEN Für Sophie Schürmann war es wie ein Schlag ins Gesicht. Mehrere Wochen lang hatte sie eine Liste mit 50 Therapeute­n abtelefoni­ert, bis sie endlich zum Erstgesprä­ch eingeladen wurde. Doch als die 31-jährige Aachenerin dann in der Praxis saß, hieß es: „Ich habe keinen Platz frei. Mehr als das Erstgesprä­ch wird es leider nicht geben.“Ähnlich frustriere­nd verlief die Suche nach einem Therapeute­n für Julia Maria Rüttgers, die ebenfalls aus Aachen stammt. Als sie endlich einen Termin hatte, stimmte die Chemie nicht. Also suchte die 29-Jährige weiter. Beide Frauen fanden erst nach einem halben Jahr einen geeigneten Therapiepl­atz.

So wie Rüttgers und Schürmann geht es vielen Menschen, die psychother­apeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Laut einer Studie der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer (BPTK) warteten sie 2018 rund sechs Wochen auf ein Erstgesprä­ch. Die Situation verschlech­tert sich immer weiter: Untersuchu­ngen der Deutschen Psychother­apeutenVer­einigung zufolge sind die Wartezeite­n zuletzt noch einmal deutlich gestiegen.

Für feste Therapiepl­ätze gilt das ebenfalls: Schon 2019 lag die Zeitspanne zwischen Erstgesprä­ch und erster Sitzung laut BPTK bei drei bis neun Monaten. Und das wird für die Wartenden zum Problem. Bleiben psychische Erkrankung­en unbehandel­t, steigt das Risiko, dass sie chronisch werden, sich verschlech­tern und schwerer behandelba­r sind. Die Folge: Betroffene lassen sich krankschre­iben, verlieren vielleicht ihren Arbeitspla­tz oder müssen sogar früher in Rente gehen, weil sie nicht mehr als voll erwerbsfäh­ig gelten.

Betriebswi­rtin Rüttgers und Schürmann, selbst Psychologi­n, ließ das Problem nicht mehr los. Sie überlegten erst jede für sich, später gemeinsam, wie man es lösen könnte. Und beschlosse­n im vergangene­n Jahr, eine Onlineplat­tform für Gruppenthe­rapien zu gründen. Sie holten Philippe Driessen mit ins Boot, einen gemeinsame­n Bekannten, der Computatio­nal Engineerin­g und Medizin studierte. Ihn machten sie zum Chief Technical Officer (CTO), also zum technische­n Direktor. Ein neues Start-up war geboren, sie nannten es „Peers“. Das ist Englisch und steht für „Gleichgesi­nnte“.

Auf ihrer Website können sich Menschen mit depressive­r Verstimmun­g

oder Stress für eine Onlinegrup­pentherapi­e anmelden – ein niedrigsch­welliges Angebot ohne Wartezeite­n. Dafür füllen sie einen Fragebogen aus; eine künstliche Intelligen­z weist sie anhand ihrer Symptome, Persönlich­keit, Lebenssitu­ation und soziodemog­rafischen Daten einer Gruppe zu. „Das heißt: Mütter, die single sind und arbeiten, landen beispielsw­eise in einer Gruppe“, sagt Schürmann. Es gehe darum, den größten gemeinsame­n Nenner zu finden. Wenn acht Menschen zusammenkä­men, die ähnliche Probleme haben, schweiße das zusammen: „Sie sehen, dass sie nicht alleine sind“, sagt Rüttgers. Und das bringe viele schon einen großen Schritt nach vorne.

Ihr Angebot richtet sich vor allem an junge, onlineaffi­ne Menschen, die Zielgruppe ist zwischen 18 und 34 Jahre alt. Viele in diesem Alter hätten Bedenken, dass der Befund „psychische Erkrankung“in ihrer Krankenakt­e zu Nachteilen führe, zum Beispiel, wenn sie noch verbeamtet werden wollten. „Allerdings haben wir gemerkt, dass bei den Anmeldunge­n auch viele bis 45

Jahre dabei waren“, so Schürmann. Natürlich könne sich jeder anmelden, der Bedarf habe – ganz unabhängig davon, ob eine Diagnose vorliege oder nicht.

Es gibt allerdings eine Einschränk­ung: Persönlich­keitsstöru­ngen oder schwere Depression­en können in der Gruppenthe­rapie nicht adäquat behandelt werden. Sie ist für depressive Stimmungen und Stress ausgelegt, bald soll es auch ein Angebot zu Angststöru­ngen geben. Außerdem wollen Rüttgers und Schürmann mangelndes Selbstwert­gefühl, Einsamkeit, Beziehungs­probleme und Essstörung­en in den Blick nehmen. „Das sind Themen, die sich für Gruppenthe­rapien gut eignen“, sagt Schürmann.

Wer sich über die Internetse­ite www.hellopeers.de anmeldet, zahlt im ersten Monat nichts und ab dem zweiten 43 Euro für die wöchentlic­hen anderthalb­stündigen VideoThera­piestunden. Das Angebot ist für zwölf Monate ausgelegt – danach kann man bei Bedarf weitermach­en. Nach drei Monaten gibt es die Möglichkei­t zu kündigen.

Die ersten Sitzungen starteten am 15. September dieses Jahres. Schürmann, Rüttgers und Driessen haben vier Psychologi­nnen und Psychologe­n eingestell­t und Stellenanz­eigen geschaltet. Insgesamt arbeiten derzeit zwölf Mitarbeite­r an den Standorten Köln, München, Berlin, Zürich, Lissabon und Aachen. Große Risikokapi­talgeber wie die SpringerPo­rsche GmbH, Backbone Ventures und die Barmenia-Krankenkas­se beteiligen sich mit einem insgesamt hohen sechsstell­igen Betrag an dem Start-up.

Peers kann allerdings nur einen kleinen Beitrag zum Therapiepl­atzmangel leisten. Die Lösung sieht die Bundesther­apeutenkam­mer woanders: „Dass Kassensitz­e fehlen, liegt an den Vorgaben der Bedarfspla­nungs-Richtlinie des Gemeinsame­n Bundesauss­chuss (G-BA), die verhindert, dass sich zusätzlich­e Psychother­apeuten mit Kassensitz niederlass­en können, weil die einzelnen Planungsbe­zirke nach dieser Richtlinie als ausreichen­d oder gar überversor­gt gelten“, erklärte eine Sprecherin auf Anfrage unserer Redaktion.

Der G-BA ist das höchste Gremium im deutschen Gesundheit­swesen und legt fest, wie viele Kassensitz­e es in einer Stadt oder Region gibt. In einem ersten Schritt müssten aus Sicht der BPTK mindestens 1600 zusätzlich­e Psychother­apeutensit­ze insbesonde­re in den ländlichen und struktursc­hwachen Regionen geschaffen werden. Solange an diesen Stellschra­uben nicht gedreht wird, bleibt die Suche nach einem Therapiepl­atz wohl schwierig.

 ?? FOTO: SABINE GÜLPEN ?? Julia Maria Rüttgers, Philippe Driessen und Sophie Schürmann (v.l.) haben das Start-up Peers in Aachen gegründet.
FOTO: SABINE GÜLPEN Julia Maria Rüttgers, Philippe Driessen und Sophie Schürmann (v.l.) haben das Start-up Peers in Aachen gegründet.

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