Rheinische Post - Xanten and Moers
Die Bräuche meiner Oma
umzugehen und achtsamer zu sein.
Auch wenn ich noch vergleichsweise jung bin, kenne auch ich natürlich den Alltagsstress. Viel zu tun auf der Arbeit, der ständige Versuch, den Kontakt zu Freunden und Familie nicht abreißen zu lassen, Rechnungen bezahlen, zwischendurch noch saugen oder kochen. Das Internet aushalten, wo in den Sozialen Medien eine Nachricht schneller als die andere kommt und jede Minute neue Bilder und Videos das Smartphone bevölkern. Der technologische Fortschritt ist toll, ich bin dankbar dafür, mit Menschen, die weit weg leben, einfach so telefonieren zu können. Doch Methoden wie das Meditieren, Yoga, sich selbst zu reflektieren, besinnliche Musik zu hören und sich auf sich zu fokussieren, den Atem zu beobachten oder seinen Körper wahrzunehmen – das kann helfen, für einen kurzen Zeitraum mal zur Ruhe zu kommen, um wieder neue Kraft zu schöpfen. Die Rauhnächte bieten den Raum dafür.
So viel Gemeinsamkeit
Meine Oma und ich haben zuvor noch nie so richtig über die Rauhnächte und ihr stilles Verbot des Wäschewaschens „zwischen den Tagen“gesprochen. Als wir miteinander darüber reden, nur wenige Tage vor dem Weihnachtsfest, dessen Name sich tatsächlich auch von den Rauhnächten ableiten lässt, sitzen wir getrennt voneinander – ich in Borth und meine Oma etwa elf Kilometer entfernt in Budberg. Es ist schon Abend, und wir haben knapp einen Monat nicht miteinander gesprochen, weil die Zeit dazu oft fehlt. Ich bin froh, an diesem Abend mit ihr zu sprechen. Weil sie meine Oma ist. Auch weil ich mit ihr über meine Gedanken zu den alten Rauhnächte-Bräuchen sprechen kann, die ich durch sie zumindest bis zu meiner Ur-Oma zurückverfolgen kann. Und weil wir über die heute – vor allem unter jungen Menschen – immer beliebteren Achtsamkeitspraxen Yoga und Meditation sprechen. Meine Oma hat beides noch nie gemacht, auch wenn sie sich immer wieder Zeit nehme, Dinge zu reflektieren, wie sie sagt. Gerade am Ende eines Jahres. „Was ist eigentlich so passiert“, frage sie sich dann.
Entschleunigung
Eine, die sich mit Yoga und Meditation auskennt, ist Michelle Puiskens (40). Sie ist Yoga-Lehrerin in Rheinberg, hat ihre Räume in der „Körpermitte“an der Moerser Straße 22. Sie gibt dort Kurse für Menschen, die Lust haben, zusammen bei sich selbst anzukommen. Und sie sagt: „Ich liebe die Mischung aus körperlicher Anstrengung – mit einem Hauch Spiritualität – und einem klaren Fokus auf den eigenen Körper.“Dadurch bekomme sie auch wieder einen Zugang zu sich selbst. „Denn ist der eigene Körper nicht derjenige, mit dem wir definitiv die meiste Zeit im Leben verbringen?“, fragt sie rhetorisch.
Als ich Michelle Puiskens vor Weihnachten erreiche, erwische ich sie, wie sie mit ihrem noch kleinen Sohn dessen Zimmer aufräumt und ausmistet. „Sich von altem Ballast befreien“, wie sie sagt. „Wir bereiten uns auf den Jahreswechsel vor“, ergänzt sie und berichtet, dass auch sie die Rauhnächte seit Jahren praktiziere. Kennengelernt habe sie den Brauch durch ihre Oma und gebe ihn nun weiter an ihr Kind, das sie liebevoll Mini-Yogi nennt. Sie will die letzte Wäsche an Heiligabend anschmeißen, ihre Finanzen regeln, das ablaufende Jahr reflektieren und – schöne Dinge unternehmen, die ihr „Herz erfüllen“, wie sie sagt. „Ich liebe diese Zeit, sie ist entschleunigend und beruhigend“, betont sie. Sie meint damit die für viele Menschen freien Tage zwischen Weihnachten und Anfang Januar.
Haus vor bösen Geistern schützen
Eines will sie auch tun, was erst einmal ungewöhnlich klingen mag, aber doch Sinn ergibt: Ihr Haus ausräuchern mit Rosenweihrauch, um die eigenen vier Wände und damit auch sich selbst von all dem Stress und doofen Momenten zu befreien, die in diesem Jahr ins Haus gekommen sind. Dabei will sie die Musik laut aufdrehen – im alten Jahr haben sie und ihr Sohn gemeinsam „Freude Schöner Götterfunken“gehört, berichtet sie. Sie will durch jeden Raum gehen, mit einer Schale aus Stein in der Hand den Rauch verteilen. Die Feuermelder sollte man vorher ausschalten, sagt Michelle Puiskens. Und nach dem Räuchern sollten die Fenster geöffnet werden, „damit der Stress und der Duft auch aus dem Haus abziehen können“, erklärt Puiskens. Im vorigen Jahr habe sie das Palo-Santo-Holz verwendet, danach sei es schwierig gewesen, den Geruch auszuhalten. Mit Rosenweihrauch gehe das aber, meint sie und freut sich schon darauf. Ihr Sohn ebenfalls.
Rauhnächte für sich nutzen
Was Menschen sich nun für die Rauhnächte vornehmen können, frage ich sie. „Es muss nicht perfekt sein“, antwortet sie – das Wichtigste sei, „das zu machen, was einen erfüllt, was man mag“, rät die Yoga-Lehrerin. „Man muss kein Haus ausräuchern, sondern kann auch Kreuzworträtsel machen, puzzlen oder malen.“Andere beobachteten in jeder der zwölf Nächte, was passiert, und zögen daraus ihre Schlüsse auf die kommenden zwölf Monate. Die erste Nacht steht für den Januar.
Heidrun Letzner, eine Märchenerzählerin aus Leverkusen, erzählte, sie würde am Neujahrstag zum Beispiel immer Fisch essen. Außerdem stelle sie sich Fragen wie: „Womit möchte ich mich nun noch beschäftigen? Was könnte ich mir suchen, womit ich meinen Horizont erweitern kann? Was wünsche ich mir vielleicht auch für Beziehungen?“, zählte sie auf. „Trenne ich mich von einzelnen Personen, die mir nicht mehr wirklich etwas geben? Wie gehe ich mit verschiedenen Sachen um, wo kann ich mich einbringen?“, ergänzte sie. Letzner betonte, sie sei sonst immer auf der Suche nach etwas. Durch die Rauhnächte und die Feierlichkeiten mit Weihnachten und Jahreswechsel komme sie in eine Zeit, in der sie sich zurückziehen und auf sich selbst besinnen will.
Zu entschleunigen könne aber auch im Alltag helfen – abseits der Rauhnächte. Die Leverkusenerin bestätigte, dass Meditation und Achtsamkeit moderne Formen seien, Geister zu vertreiben – „die Geister in unseren Köpfen“.
Was Michelle Puiskens sofort beruhige, sei Yoga, erzählt sie. „Aber auch ein Bad zu nehmen.“Das könne die Stressspirale im Alltag durchbrechen. Ihr helfe das sofort, berichtet sie. Mit Kind gar nicht so leicht. Doch dann stelle sie sich den Wecker steige „morgens um sechs Uhr in die Badewanne“, berichtet die Rheinbergerin. Andere Menschen machten Ausdauersport, bewegten sich an der frischen Luft und in der Natur, sagt die Yoga-Lehrerin.
Ich persönlich gehe lieber in Ruhe spazieren statt zu joggen. Ich will nicht auf die Zeit achten und möglichst schnell sein, sondern einfach nur im Moment. Das ist mein ganz persönlicher Jahresvorsatz für 2023: möglichst wirklich da sein, öfter meine Familie und meine Freunde sehen, mehr mit Oma telefonieren und endlich einmal Yoga ausprobieren.
Doch letztlich gibt so viele Dinge, die helfen können, mal anzukommen, wie schon Michelle Puiskens verdeutlicht hat. Ich trinke zum Beispiel morgens Tee. Vorher setze Wasser auf, suche mir den Teebeutel aus, überlege, wie ich mir jetzt etwas Gutes tun kann. Wenn ich die warme Tasse ansetze und daraus trinke, dann versuche ich, den Tee zu genießen. Die Wärme zu spüren, die meinen Hals hinunterfließt, die Zutaten herauszuschmecken – ich trinke zum Beispiel sehr gern Tee mit Kirschen – und in diesem Moment einfach nur da zu sein. Die Gedanken beiseitezuschieben, die schon die nächste Aufgabe in den Blick rücken. Es zu schätzen, dass ich mir Zeit für mich nehme – etwas anderes gerade gar nicht zählt.
Zauber in kleinen Dingen entdecken
Die Welt ist schnelllebig. Das sagt auch meine Oma am Telefon. So viel schnelllebiger als früher – und ich frage sie, was sie mit früher meint. Schließlich ist sie schon 78 Jahre alt – hat viele spannende, schöne, lustige und zugleich auch traurige Erfahrungen gemacht – und ich habe viele davon gar nicht miterlebt, weil es mich erst seit 22 Jahren gibt. Sie hat erlebt, wie die Welt durch Internet und Technologie anders geworden ist, vorher mit Bergbau und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie antwortet: „Mit früher, ja, ich meine, als ich Kind war. Da war es ruhiger – denn als Kind hat man auch gar nicht so viel davon wahrgenommen.“Ein Kind dürfe schließlich Kind sein, müsse nicht arbeiten, Rechnungen bezahlen. Kinder erlebten die Welt anders.
Was beim Erwachsenwerden abhandenkomme, frage ich mich, abgesehen von der Zeit, die dann noch schneller rennt, weil es Listen voller Erledigungen gibt, die noch darauf warten, abgehakt zu werden. Nun, da ich versuche, zumindest aus Achtsamkeit noch einmal wie als Kind auf die Welt zu schauen, wird mir bewusst: Es ist das Außergewöhnliche in den unscheinbaren Dingen. Ein Zauber, von dem ich glaube, dass wir darauf aufpassen müssen, dass er uns nicht abhanden kommt, weil wir keine Zeit mehr haben.
Unsere Autorin hat schon als Kind die Zeit zwischen den Jahren geliebt. Für deren besonderen Zauber hat sie nun einen Namen: die Rauhnächte. Eine uralte Tradition, die besinnlich sein kann, aber auch verbietet, über Silvester nasse Wäsche zum Trocknen aufzuhängen.
Nicht vergessen
Zwischen Weihnachten und dem Heiligen-Drei-Königstag kommt der Zauber bei vielen noch einmal auf. Wir denken an die Traditionen, die es gab, als wir noch kleiner waren. Es passt so gut, dass die Rauhnächte in diese Zeit fallen, in der viele mit Weihnachten ohnehin zauberhafte Geschichten aufleben lassen. Was ich auch machen will: entspannen, kreativ werden – schreiben und malen, lesen und spazieren gehen, raus in die Natur. Dort möchte ich auf die kleinen Dinge achten. Sie begeistern das Kind in mir, das ich zurückgewonnen habe, als ich mit der Achtsamkeit angefangen habe. Das Wichtigste für mich – und das möchte ich als Ratschlag mit auf den Weg geben: Überlegen Sie sich, was Sie genau jetzt tun wollen. Machen Sie es, handeln Sie. Das, was Sie erledigen müssen, schreiben Sie auf eine Liste, dann vergessen Sie es nicht. Und: Ich stelle mir manchmal auch Wecker für die schönen Dinge mitten am Tag. So vergesse ich im Alltagsstress nicht, an mich zu denken. Das klingt selbstverliebt, finden Sie? Dann möchte ich an Michelle Pusikens erinnern, die sagt: „Mit niemandem verbringen wir mehr Zeit als uns selbst.“Lassen Sie uns also zu einem möglichst angenehmen Zeitgenossen oder einer wertschätzenden Zeitgenossin für uns selbst werden. Und den Zauber der Rauhnächte gemeinsam in alle anderen Tage tragen.