Rheinische Post - Xanten and Moers
Armee in der Zeitenwende
Die Bundeswehr verschiebt ihre Prioritäten vom Einsatz hin zur Landesverteidigung. Dabei aber mangelt es noch an allen Enden.
BERLIN Der Major spricht Klartext. Der Mann ist Fallschirmjäger, mit seiner Kompanie in Bad Reichenhall stationiert. Aber seit einer Woche ist er mit gut 220 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Mission an der Nato-Ostflanke in der Slowakei. Gerade noch hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht gesagt, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe auch der Nato gezeigt, „wie wichtig es ist, jeden Zentimeter des Bündnisgebietes zu verteidigen“. Major Marcel Z. denkt an zu Hause, an ein dort womöglich zu lange für selbstverständlich gehaltenes Sicherheitsgefühl. Deutschland sei vielleicht „etwas friedensverwöhnt“. Als Armee müsse sich die Truppe wieder damit auseinandersetzen, „nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu sterben“.
Zeitenwende – im inzwischen elften Monat seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Lambrecht war zuletzt bei der Truppe in Mali, in Niger und in der Slowakei. Zwei sehr unterschiedliche Einsätze. In der Sahel-Zone hilft die Bundeswehr beim internationalen Anti-Terror-Einsatz und bildet einheimische Soldaten aus. Doch seit die Militärregierung in Bamako russische Söldner zur Stabilisierung ins Land gelassen hat, stehen auch für das deutsche Kontingent die Zeichen auf Abzug. Bis Mai 2024 soll die Bundeswehr Mali verlassen. In der Slowakei stärkt die Bundeswehr mit zwei Patriot-Flugabwehrstaffeln die Ostflanke der Nato. Die Ministerin betont, dass Deutschland seine Verpflichtungen im Bündnis erfüllen werde. Zuletzt hatte der Schützenpanzer Puma Schlagzeilen gemacht, nachdem 18 der Kettenfahrzeuge bei einer Übung ausgefallen waren.
Lambrecht ist Inhaberin der Befehlsund Kommandogewalt (Ibuk) in Friedenszeiten im eigenen Land. Friedenszeiten bei einem Krieg in
Europa? Auch wenn die Bundeswehr weiter auf drei Kontinenten und zwei Weltmeeren im Einsatz ist, rückt die Landesverteidigung und damit die Fähigkeit, die eigenen Grenzen gegen einen Angriff von außen zu schützen, wieder stärker in den Blickpunkt. Heeresinspekteur Alfons Mais hatte schon früh im Jahr Alarm geschlagen, die Truppe stehe „mehr oder weniger blank da“. Fest steht: Trotz Zeitenwende und 100 Milliarden Euro Sondervermögen Bundeswehr, die neue Schulden bedeuten, mangelt es den Streitkräften
in vielen Truppenteilen an voller Einsatzbereitschaft.
Und wie steht es um die Fähigkeit, die eigenen Landesgrenzen aus eigener Kraft auch wirklich zu verteidigen? Die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), sagt: „Die Bundeswehr kann selbstverständlich unser Land verteidigen, aber immer nur im Zusammenspiel mit unseren NatoPartnern.“Außer den USA dürfte es kein anderes Land im Bündnis geben, dessen Armee das eigene Territorium
alleine verteidigen könne. „Was unsere Verpflichtungen innerhalb der Nato allerdings angeht, haben wir deutlich Nachholbedarf.“Auch Bundestags-Wehrbeauftragte Eva Högl denkt, dass die Bundeswehr zur Landesverteidigung in der Lage ist – gemeinsam mit den Partnern im Bündnis. Allerdings müsse die volle Einsatzbereitschaft erst wiederhergestellt werden. Zudem sei die Ausstattung beim Material schlechter als vor dem 24. Februar, „weil viel zur Unterstützung der Ukraine abgegeben wurde, aber noch nichts wieder ersetzt wurde“. Mit den Problemen beim Puma zeige sich, wie fragil die Lage beim großen Gerät sei. Högl: „Die Bundeswehr hat fast von allem zu wenig.“
Mehr als zwei Jahrzehnte war die Bundeswehr eine Armee im Einsatz. Afghanistan, Irak, Libanon, Horn von Afrika, Mali, Niger, Bosnien-Herzegowina, Kosovo. Doch seit Russland die Ukraine am 24. Februar angegriffen hat, ist vieles anders. Gut möglich, dass damit deutsche Auslandseinsätze künftig die Ausnahme werden, weil die Heimatverteidigung in den Vordergrund rückt. Plötzlich wird etwa auch die Ostsee, die lange als „Meer des Friedens“galt, wieder ein Terrain, auf dem höchste Wachsamkeit gelten muss. Högl betont: „Statt Einsätze in langen Zeiträumen zu planen, muss die Bundeswehr ertüchtigt werden, schnell und vollständig einsatzbereit zu sein.“Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann sagt, ein Kriterium für Bundeswehreinsätze werde weiter sein, die Bundeswehr dorthin zu schicken, wo die Sicherheit Deutschlands bedroht werde – und sei es indirekt.
Die Ministerin selbst darf und will ihre Truppe nicht schwachreden. Schließlich hat sie im September bei einer Rede in Berlin gar darüber gesprochen, Deutschland wolle „auch militärisch eine Führungsrolle“in Europa übernehmen. Aber die Hausaufgaben zu Hause muss Lambrecht erledigen, wo sie doch um die Verteidigungslücken bei der Truppe weiß. Dafür braucht sie Geld und schnellere Verfahren bei der Beschaffung von Großgerät.
Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz freute sich erst vor zwei Wochen gemeinsam mit Lambrecht und Generalinspekteur Eberhard Zorn, dass nun US-Kampfflugzeuge des Typs F-35 als Nachfolge für die betagten Tornados bestellt werden. Gerhartz als Luftwaffenmann lobte dies als „Überschallbereich bei der Beschaffung.“