Rheinische Post - Xanten and Moers
Lasst uns mehr über Sex reden
Das Thema ist allgegenwärtig und trotzdem ein Tabu. Laut einer Umfrage spricht ein Viertel der Menschen mit niemandem über das eigene Sexualleben. Dabei könnte sich mehr Kommunikation positiv auf die Gesundheit auswirken.
Im Fernsehprogramm reihen sich heiße Filmküsse an erotische Sexszenen, während in der Werbung der neuste Vibrator angepriesen wird und das Magazin am Kiosk fünf einfache Tipps für einen besseren Orgasmus bietet. Das Thema Sex ist präsent. Und doch zählt das Reden darüber noch immer zu einem der größten Tabus. Das ergab eine Befragung des Marktforschungsunternehmens Ipsos mit 1000 Frauen und Männern. Demnach sprechen 28 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer mit niemandem über das eigene Sexualleben. Gleichzeitig wünschen sich 72 Prozent der Befragten einen offeneren Umgang mit persönlichen und intimen Themen.
Warum fällt es vielen Menschen schwer, über Sex zu sprechen? „Das hat ganz viel mit der eigenen Biografie zu tun“, sagt Carsten Müller, Sexualund Paartherapeut. Wenn schon in der Kindheit Fragen unbeantwortet blieben und in der Schule ausschließlich über sexuell übertragbare Krankheiten und Verhütung von ungewollten Schwangerschaften gesprochen werde, sei das Thema von Anfang an schambesetzt. Gleichzeitig wüssten viele nicht, wie sie sich ausdrücken sollen. „Wenn man einfach nicht gelernt hat, über Sexualität zu sprechen, kommt eine gewisse Sprachlosigkeit hinzu“, sagt Müller. Kinder könnten jedes kleinste Körperteil benennen, vom Zeigefinger bis zum Ohrläppchen, nur der Genitalbereich werde noch immer verniedlicht oder von Erwachsenen mit Begriffen wie „da unten rum“umschrieben.
Doch Sexualität bedeutet auch große Intimität – und die geht oft mit einem Gefühl der Unsicherheit einher. Nackter als beim Sex kann man – wortwörtlich – nicht sein. Das schmälert das Interesse
an dem Thema aber nicht. „Es ist allerdings leichter, das medial aufbereitet wahrzunehmen, als sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen“, sagt der Therapeut. Genau darin sieht er aber ein Problem: Die Sexualität in Film und Fernsehen sei in der Regel nicht vergleichbar mit dem, was zwischen realen Paaren passiere. Deshalb sei Kommunikation in einer Beziehung besonders wichtig. „Jeder Mensch soll für seine eigene sexuelle Selbstbestimmung eintreten können“, so Müller.
Dafür brauche es Sprache – samt Vokabeltraining. Denn zum Austausch über Sex gehören laut Müller auch Fragen wie die nach der Benennung der Geschlechtsteile. „Das sollte aber nicht während sexueller Aktivitäten ausdiskutiert werden“, ergänzt der Experte. Stattdessen rät er Paaren, sich bewusst Zeit zu nehmen, um über Sexualität zu sprechen: Wie will man Lust kenntlich machen? Was gefällt mir und was nicht? Die erotische Sexszene im Film könnte zum Beispiel als Anlass dienen, um neugierig zu fragen: Findest du gut, was wir da sehen?
Werden Wünsche und Vorlieben nicht kommuniziert, ist die Wahrscheinlichkeit laut Müller groß, dass diese auch nicht wahrgenommen werden. Die Folge: Unzufriedenheit. Doch auch für die eigene Selbstentwicklung sei Sprache ein wichtiges Instrument. „Sexualität ist etwas, was sich im Laufe des Lebens immer weiterentwickelt, weil sich unsere Körper und Lebenssituationen verändern“, erklärt der Sexualtherapeut. Plötzlich müssen sich Menschen damit auseinandersetzten, dass der Körper nicht will, wie man es gerne hätte, oder die Lust schwindet. Hier kann Kommunikation helfen. „Deshalb ist es so wichtig, dass Sprechen über Sex zur Normalität wird“, sagt Müller.
Und das nicht nur in Beziehungen. Auch im Gesundheitswesen sollte mehr
Carsten Müller Sexualtherapeut über Sexualität gesprochen werden. Erektionsprobleme können beispielsweise ein Zeichen für körperliche Beeinträchtigung sein. Doch sogar beim Hausarzt werde Sexualität viel zu selten angesprochen, wie Müller berichtet. Dabei habe sexuelle Gesundheit nicht nur Auswirkungen auf den Körper, sondern auch auf die Psyche. Das Potenzial für Depressionen ist dem Experten zufolge höher, wenn Menschen mit ihrer Sexualität unzufrieden sind und keinen Weg finden, daran etwas zu ändern. Ein wenig Gelassenheit könne aber schon helfen: „Je gelassener und normaler ich das Thema Sexualität behandle, desto leichter können die Menschen, die mir gegenübersitzen, darüber sprechen“, so Müller. Mediziner sollten einen gelassenen Umgang mit dem Thema Sex vorleben. Auch der Hausarzt darf mehr über Sex sprechen, um den Patienten das Reden darüber zu erleichtern.
Und auch in Familien sollte das Thema kein Tabu sein. Mit wem sollten Kinder sonst über Sexualität sprechen? Wenn die Eltern ihnen eine Antwort verweigern, wird das Internet dies nicht automatisch tun. „Wenn Eltern offen über Sexualität sprechen, können sie aktiv Einfluss darauf nehmen, welches Bild ihr Kind von Liebe, Partnerschaft und Sexualität entwickelt“, sagt Müller. Dafür brauche es aber nicht das berühmte Küchengespräch. Es reiche aus, den Kindern zu vermitteln: In dieser Familie kann über Sexualität gesprochen werden. Bücher können einen guten Anlass geben. Die Kinder entscheiden dem Experten zufolge dann selber, wann sie sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Natürlich bleibt es eine individuelle Entscheidung, wie man mit dem Thema Sexualität umgeht. Doch das Sprechen darüber kann nicht nur dabei helfen, die eigenen Wünsche oder die des Partners zu erkennen, sondern auch die Gesundheit zu fördern und den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu unterstützen. Deshalb sollte Sexualität kein Tabuthema mehr sein.
„Jeder Mensch soll für seine eigene sexuelle Selbstbestimmung eintreten können“