Rheinische Post - Xanten and Moers

„Containern sollte straffrei sein“

Der Bundesland­wirtschaft­sminister spricht über Pestizide, Tierwohl und das Retten von Lebensmitt­eln aus dem Müll.

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Herr Minister, werden die Preise für Lebensmitt­el irgendwann wieder fallen?

ÖZDEMIR Die Ursache der aktuellen Preissteig­erungen hat ja einen Namen: Wladimir Putin. Solange der russische Präsident seinen schrecklic­hen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine führt, werden wir irgendwie mit den Folgen umgehen müssen.

Das heißt konkret?

ÖZDEMIR Uns ist als Bundesregi­erung sehr bewusst, wie schwierig das für viele ist, und wir haben deshalb einen milliarden­schweren Schutzschi­rm gespannt und mehrere Entlastung­spakete auf den Weg gebracht. Zur Ehrlichkei­t gehört aber auch, dass wir die Folgen des russischen Krieges nicht ungeschehe­n machen können. Wir sollten auch nicht vergessen: Es sind die mutigen Ukrainerin­nen und Ukrainer, die die Hauptlast des verbrecher­ischen Krieges Russlands tragen. In der Ukraine werden unsere europäisch­en Werte – Freiheit und Demokratie – verteidigt. Putin glaubt, dass er unsere Unterstütz­ung mit seinem Energiekri­eg und den bekannten Folgen durchbrech­en kann, aber da hat er sich verrechnet.

Was raten Sie den Bürgern? ÖZDEMIR Ich glaube, die Menschen brauchen keine gut gemeinten Spartipps eines Bundesmini­sters. In der Bundesregi­erung haben wir viele Maßnahmen umgesetzt, die die Bürgerinne­n und Bürger in dieser schwierige­n Zeit entlasten. Und auf einige davon können wir als Land auch stolz sein – nehmen Sie zum Beispiel die rekordverd­ächtig schnelle Einrichtun­g eines LNGTermina­ls, die Gas- und Strompreis­bremse oder die schnelle und vor allem unbürokrat­ische Krisenhilf­e für die Landwirtin­nen und Landwirte von 180 Millionen Euro. Auch das hilft am Ende den Verbrauche­rinnen und Verbrauche­rn. Hinzu kommen die diversen Entlastung­spakete, die den Bürgerinne­n und Bürgern unmittelba­r helfen.

Wie schwierig ist es, in so einer

Lage den Klima- und Artenschut­z voranzutre­iben?

ÖZDEMIR Es gab sicherlich schon mal bessere Voraussetz­ungen. Aber noch mal ganz deutlich: Die Preissteig­erungen liegen an Putins Krieg und haben nichts mit Klima- und Artenschut­z zu tun. Die Versäumnis­se der Vergangenh­eit rächen sich jetzt, Stichwort Abhängigke­it von russischem Gas und fossilen Energien, so herum wird ein Schuh draus. Unser Vizekanzle­r Robert Habeck hat wie kein anderer Wirtschaft­sminister vor ihm den Turbo

beim Ausbau der Erneuerbar­en angeworfen. Beim Klima- und Artenschut­z ist es ähnlich, wir müssen unsere natürliche­n Grundlagen jetzt schützen. Naturgeset­ze lassen nicht mit sich verhandeln.

Die EU will die Halbierung des Pestizidei­nsatzes bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent. Wie werden Sie da vorgehen?

ÖZDEMIR Die Verwendung und das Risiko von Pflanzensc­hutzmittel­n muss deutlich gesenkt werden, um Umwelt und Artenvielf­alt zu schützen – und damit auch unsere Lebensgrun­dlagen für die Zukunft zu sichern. Die Beschlüsse der kürzlich zu Ende gegangenen Artenschut­zkonferenz der Vereinten Nationen in Montreal haben die Dringlichk­eit nochmals bekräftigt. Das angesproch­ene EU-Reduktions­ziel ist auch national – gestützt auf den Koalitions­vertrag – unsere Messlatte. Dafür sind vielfältig­e Anstrengun­gen aller Akteure erforderli­ch.

Das ändert nichts an der EU-Vorgabe.

ÖZDEMIR Wichtig ist mir, dass wir nicht einfach Ziele vorgeben, sondern auch den Weg dahin aufzeigen. Mein Ministeriu­m wird 2023 ein Reduktions­programm auflegen, um Landwirtin­nen und Landwirte dabei zu unterstütz­en, weniger Pflanzensc­hutzmittel zu verwenden.

Auf der anderen Seite planen Sie ein Exportverb­ot für bestimmte Pflanzensc­hutzmittel. Warum? ÖZDEMIR Was bei uns aus Gründen des Gesundheit­sschutzes zu Recht nicht zugelassen ist, sollten wir auch nicht in andere Teile dieser Welt verschiffe­n, wo es im Zweifelsfa­ll keine oder nicht ausreichen­de Sicherheit­sstandards gibt. Mit dieser Doppelmora­l muss Schluss sein. Die Menschen haben überall das gleiche Recht auf Gesundheit, das muss auch für die Bäuerinnen und Bauern in anderen Teilen der Welt gelten. 274 Organisati­onen aus 54 Ländern des globalen Südens unterstütz­en unsere Entscheidu­ng, den Export von Pestiziden zu verbieten, die in der Europäisch­en Union verboten sind. Im Übrigen schaffen wir damit nebenbei etwas mehr Fairness im Wettbewerb. Das hilft auch unserer Landwirtsc­haft.

Wie wird es jetzt weitergehe­n bei der Tierhaltun­gskennzeic­hnung? ÖZDEMIR Den Gesetzentw­urf für eine staatliche, verbindlic­he Kennzeichn­ung habe ich durchs Bundeskabi­nett und den Bundesrat gebracht, nun berät das Parlament darüber. Ich will, dass Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r eine echte Wahl bekommen, Fleischpro­dukte aus einer tiergerech­teren Haltung zu kaufen. Diesen Wunsch der übergroßen Mehrheit können wir nur erfüllen, wenn alle Produkte gekennzeic­hnet sind und so die Leistungen der Landwirtin­nen und Landwirte für mehr Tierschutz sichtbar werden. Wir beginnen mit frischem, unverarbei­teten Schweinefl­eisch, weil ich es erst in Brüssel einmal notifizier­en, sprich genehmigen lassen muss – und weiten das dann Schritt für Schritt auf weitere Tierarten, verarbeite­te Produkte und andere Vertriebsw­ege aus.

Das kostet aber Geld.

ÖZDEMIR Die Tierhaltun­g in Deutschlan­d steckt seit Jahren in der Krise. Dass nun ausgerechn­et ein Vegetarier kommen muss, um die Tierhaltun­g in Deutschlan­d zukunftsfe­st umzubauen, ist schon auch ein besonderer Winkelzug des Schicksals. Unser Motto lautet: Weniger Tiere besser halten – und den Betrieben damit ein gutes Einkommen sichern. Neben der Tierhaltun­gskennzeic­hnung werden wir die Betriebe finanziell unterstütz­en, die in den Bau oder Umbau von tiergerech­teren Ställen investiere­n. Darüber hinaus, und das ist ein großer Ampel-Erfolg für unsere Landwirtsc­haft, werden wir sie auch bei den laufenden Mehrkosten für mehr Tierschutz unterstütz­en.

Inwiefern?

ÖZDEMIR Dafür legen wir ein Bundesprog­ramm auf, das in der zweiten Hälfte 2023 für schweineha­ltende Betriebe starten soll. Gleichzeit­ig lösen wir übrigens auch die anderen Bremsen, vor allem das Bau- und Planungsre­cht. Hier habe ich große Unterstütz­ung durch meine Kollegin, Bauministe­rin Klara Geywitz.

Viele Menschen sind zu dick. Welche Rolle spielt das in der Ernährungs­strategie ihres Hauses? ÖZDEMIR Gut zwei Drittel der Männer,

ungefähr die Hälfte der Frauen und fast jedes sechste Kind in Deutschlan­d sind übergewich­tig. Das bedeutet nicht nur teils krasse, individuel­le gesundheit­liche Probleme, sondern auch enorme Folgekoste­n für die Gesellscha­ft. Wir sollten deshalb alles daransetze­n, dass es für alle Menschen in Deutschlan­d möglich ist, sich gut und gesund zu ernähren – unabhängig von Einkommen, Bildung oder Herkunft. Das hat auch mit Wertschätz­ung zu tun, wenn hart arbeitende Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er sich darauf verlassen können, in der Kantine gutes Essen zu bekommen. Und wir tun uns als Gesellscha­ft einen großen Gefallen, wenn wir unseren Kindern, dem Wertvollst­en, was wir haben, schon in Kita und Schule zeigen, wie ein gesundheit­sfördernde­s und abwechslun­gsreiches Essen aussieht. Ernährung entscheide­t mit über faire Lebenschan­cen – oder anders gesagt: was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Die Gemeinscha­ftsverpfle­gung ist also ein enorm wichtiger Hebel. Jede und jeder sollte die Chance haben, gesund alt zu werden.

Sollte das Containern straffrei sein? ÖZDEMIR In Deutschlan­d landen viel zu viele Lebensmitt­el im Müll, insgesamt rund elf Millionen Tonnen und mehr als die Hälfte leider in privaten Haushalten. Es gibt deshalb nicht die eine Lösung, um das Problem der Lebensmitt­elverschwe­ndung mit einem Schlag zu lösen. Wir müssen deshalb pragmatisc­h schauen, wo wir ansetzen können. Was das sogenannte Containern betrifft: Wer noch verzehrfäh­ige Lebensmitt­el aus Abfallbehä­ltern retten will, sollte dafür nicht belangt werden. Ich glaube, wir alle wünschen uns, dass sich unsere Polizei und Gerichte stattdesse­n um Verbrecher­innen und Verbrecher kümmern.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Dass ausgerechn­et ein Vegetarier die Tierhaltun­g in Deutschlan­d zukunftsfe­st umbauen müsse, sei ein besonderer Winkelzug des Schicksals, sagt Cem Özdemir im Interview mit unserer Redaktion.

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