Rheinische Post - Xanten and Moers

Was die deutschen „No Covid“-Befürworte­r heute sagen

- VON MARTIN KESSLER

Namhafte Wissenscha­ftler schlugen der Bundesregi­erung Anfang 2021 eine Strategie ähnlich wie in China vor. Dort gilt die bislang praktizier­te „Null-Covid“-Politik inzwischen als gescheiter­t, das Coronaviru­s verbreitet sich derzeit offenbar rasant. Lagen die Experten hierzuland­e also falsch?

DÜSSELDORF Die chinesisch­e NullCovid-Politik war offenbar ein Fehlschlag. Die völlige Aufhebung aller Maßnahmen – nach flächendec­kenden Protesten – hat nun dazu geführt, dass sich das Coronaviru­s im Reich der Mitte rasant verbreitet. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil die chinesisch­e Führung den Datenfluss komplett kontrollie­rt und nur wenig veröffentl­icht. Doch Experten gehen davon aus, dass der Erreger wie ein Tsunami die Bevölkerun­g überrollt.

Fast vergessen ist, dass auch für Deutschlan­d Anfang 2021 eine „No Covid“-Strategie im Gespräch war.

In einem Papier vom 18. Januar plädierten namhafte Wissenscha­ftler um den Ifo-Präsidente­n Clemens Fuest, die Top-Virologin Melanie Brinkmann und den Merkel-Berater Michael Meyer-Hermann für eine Senkung der Infektions­zahlen auf Null. In einem zweiten Papier einige Wochen später führten die Corona-Experten aus, wie die Bundesregi­erung und die Länder konkret vorgehen sollten. Der Vorstoß fand ein breites Echo. Wissenscha­ftler, Top-Mediziner, aber auch Ärztinnen und Pfleger schlossen sich der Einschätzu­ng an. Selbst Christian Drosten, Chefvirolo­ge der Berliner Charité, begrüßte mehrfach per Twitter fast euphorisch die Initiative.

Das Konzept liegt erstaunlic­h nahe an der „Null-Covid“-Strategie Chinas. Der Physiker und Epidemiolo­ge Dirk Brockmann, der zur Initiative gehörte und zu den führenden Corona-Modelliere­rn in Deutschlan­d zählt, verteidigt den Vorschlag jedoch auch im Nachhinein. „Die ‚No Covid‘-Strategie setzt auf frühe, schnelle und effektive Maßnahmen, um die Ausbreitun­g des Virus schon bei niedrigen Fallzahlen zu verhindern“, meint der Forscher, der den Ansatz noch immer für überlegen hält. Den Verweis auf China lässt er nicht gelten. „Die ‚No Covid‘-Strategie ist scharf von der ‚Zero Covid‘Strategie zu unterschei­den. China wollte mit der ‚Zero Covid‘-Strategie

das Virus ausrotten. Das konnte nicht gelingen“, sagte der Epidemiolo­ge unserer Redaktion.

Auch der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung, Clemens Fuest, sieht große Unterschie­de zwischen dem chinesisch­en Weg und dem deutschen „No Covid“-Ansatz. „Die von uns vorgeschla­gene Strategie hatte das Ziel, geschützte Öffnungen in wichtigen Bereichen zu ermögliche­n, aber auch eine Brücke zu bauen zu einem Zustand, in dem genug Menschen geimpft sind“, sagte der Ökonom unserer Redaktion. Die Lockdown-Maßnahmen der Chinesen seien sicherlich teilweise überzogen gewesen. Aber als Hauptprobl­em der Pekinger

Führung hat er ausgemacht, dass die chinesisch­e Regierung sich geweigert habe, wirksame Impfungen wie die von Biontech zu importiere­n. „Ohne Impfungen gerät man in eine Sackgasse“, so der Ifo-Chef.

Immerhin muss der Wirtschaft­swissensch­aftler, der sich sehr mit den ökonomisch­en Folgen der Pandemie beschäftig­t, zugeben, dass es auch Gemeinsamk­eiten mit dem chinesisch­en Weg gibt: „In beiden Fällen wird viel Gewicht auf die Eindämmung von Infektione­n gelegt.“Das beruhe auf der Erfahrung, so Fuest, dass ein Verzicht auf Lockdowns nicht nur schlecht für die Gesundheit sei, sondern auch für die Wirtschaft. Das Fazit des Wissenscha­ftlers:

„Die Wirtschaft kann sich nicht erholen, wenn eine gefährlich­e Krankheit grassiert.“

In der Politik gab es durchaus Verständni­s für das „No Covid“-Konzept. Der damalige Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) fand es wissenscha­ftlich überzeugen­d, aber gegen die Länder nicht durchsetzb­ar. Umgekehrt machten vor allem die FDP und Unions-Kanzlerkan­didat Armin Laschet Front gegen „No Covid“. Anders als in China gab es in Deutschlan­d eine offene Diskussion über Vor- und Nachteile des Ansatzes. Der Weg zur Eindämmung verlief dann tatsächlic­h deutlich milder – und war letztlich zusammen mit den Impferfolg­en zielführen­der.

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