Rheinische Post - Xanten and Moers
Stresstest für die Solidarität
Aktuell ist die Energieversorgung gesichert, aber teuer. Doch zum nächsten Jahreswechsel könnten sogar fast acht Prozent von Europas Wirtschaftsleistung für Gas fällig werden. Gewaltige Spannungen in der EU drohen.
Kurz vor Weihnachten postete Klaus Müller, der Präsident der Bundesnetzagentur, eine gute Nachricht. „Es wurde zum ersten Mal seit Ende November wieder mehr Gas ein- als ausgespeichert“, erklärte der Behördenchef auf Twitter. Inzwischen liegt der Gasfüllstand bei etwa 90 Prozent, der Großhandelspreis für Erdgas ist auf weniger als die Hälfte des Rekordstands von August gefallen. „Die Energieversorgung Europas in diesem Winter ist gesichert“, fasst der französische Ökonom Anton Brender des US-Vermögensverwalters Candriam die Lage zusammen.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit, wie der Experte einräumt. Denn der entscheidende Test für die Versorgungssicherheit erfolgt erst im Winter 2023/2024. Und da sieht es ziemlich trübe aus, wenn man neuesten Berechnungen des Candriam-Chefvolkswirts folgt. Denn der Ausfall der russischen Gaslieferungen wird erst im nächsten Winter richtig spürbar. Ausreichend Ersatz an Flüssiggas auf den Weltmärkten gibt es nicht in der kurzen Frist eines Jahres. Nach den Daten von Candriam werden die weltweiten Kapazitäten für den wertvollen Rohstoff gerade einmal von 1380 auf 1420 Milliarden Kubikmeter steigen. Das ist ein Zuwachs von knapp drei Prozent, um den sich die Länder global balgen. Die Europäer können nur deshalb mehr Flüssiggas importieren, weil China und Lateinamerika ihre Bezüge reduzieren, wobei das Reich der Mitte Gas auf direktem Weg in Russland einkaufen kann. Die zusätzlichen Mengen für Europa müssen aus den USA oder Golfstaaten wie Katar kommen, die aber ihre Lieferungen nur unwesentlich steigern wollen und werden.
Die künftige Knappheit ist dramatisch. Wenn aus Russland im laufenden
Jahr erwartungsgemäß kein Gas mehr kommt, fehlen 20 bis 30 Milliarden Kubikmeter in Europa, knapp ein Drittel des deutschen Verbrauchs – obwohl der Einsatz von Gas um zehn Prozent niedriger ist als vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Die Speicher, vor Anbruch des Winters in der EU bis zum Rekordstand von mehr als 90 Prozent gefüllt, werden dann bestenfalls noch die Marke von 60 Prozent erreichen. Sie dürften sich bis April 2024 vollständig entleeren. Anders als in diesem Jahr. Da werden sie nach jetziger Planung im April am Ende der Heizperiode noch immer mit rund 30 Prozent befüllt sein. Damit könnte zum Jahreswechsel 2023/24 erneut eine Gasmangellage mit staatlichen Zuteilungssystem entstehen. Selbst wenn das vermieden wird, dürfte der Großhandelspreis auf Höchststände klettern.
Unter Experten auch in der Bundesnetzagentur gilt als unstrittig, das erst der nächste Winter zur Bewährungsprobe einer europäischen Krisenpolitik wird. Zumindest solange der Krieg anhält. Der etwas missglückte Versuch der EU-Länder, den Gaspreis europaweit zu deckeln, wird dann einem Krisenmanagement weichen müssen. Das erreicht die Dimension der Finanz- und Eurokrise von 2008 bis 2015. Diesmal müssen die Europäer den gewaltigen Finanztransfer, der durch die horrende Energierechnung entsteht, besser bewältigen. „Dieser Finanztransfer wird das Schicksal Europas entscheiden“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Brender. Und Deutschland als das Land mit der stärksten Wirtschaft und den solidesten Staatsfinanzen müsste einspringen.
Es sind gleich mehrere Bereiche, in denen Krisenmanagement angesagt ist. Gehen die Gaspreise erneut in die Höhe, von derzeit rund 80 Euro pro Megawattstunde auf dann mehr als 200 Euro, kann das die Inflation um 2,5 Prozentpunkte nach oben drücken. Insgesamt werden die hohen Energiepreise die Teuerungsrate um vier Punkte erhöhen. Der Kampf der Europäischen Zentralbank gegen die Inflation wäre vorerst Makulatur.
Noch gravierender wären allerdings die Auswirkungen auf die Staatsfinanzen und den Wohlstand der Bürger. Allein für ihre überteuerte Gasrechnung müssten die EU-Länder fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts bezahlen. Steigt der Gaspreis gar auf mehr als 300 Euro wie im August 2022, beträgt der Finanztransfer ins außereuropäische Ausland fast acht Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Das sind Größenordnungen, die die Finanzkrise 2008/2009 übertreffen. Die Gas- und Stromrechnung der privaten Haushalte würde dann dauerhaft so hoch wie bisher bleiben, vermutlich sogar noch steigen – mit allen Belastungen für die Verbraucher. Die Prognose von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, wonach der Gaspreis Ende 2023 wieder fällt, wäre ebenfalls Makulatur.
Der gewaltige Finanzbedarf trifft auf staatliche Etats, die noch von der Corona-Pandemie und den Kriegsturbulenzen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Weil gleichzeitig die Ersparnisse der Menschen zurückgehen, wird es für Länder wie Italien, Spanien und Frankreich schwierig, nötige Kredite zu beschaffen, und es wird dann auf wohlhabendere Länder wie Deutschland, Niederlande und die Staaten Skandinaviens ankommen, einen Teil der notwendigen Transfers in ärmere Länder zu übernehmen.
Der Winter 2023/24 wird erneut ein Test für die Solidarität der EU-Staaten sein. Sie dürfen in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen und müssen gleichzeitig schwächeren Ländern finanziell unter die Arme greifen. „Nur eine gemeinsame fiskalische Anstrengung kann dann Europa retten“, sagt Brender. Angesichts der krisenmüden Bevölkerung eine fast unlösbare Aufgabe für Christian Lindner und Robert Habeck.
Der Gaspreisdeckel wird einem umfangreichen Krisenmanagement weichen müssen