Rheinische Post - Xanten and Moers
Der Präsident spricht
Wolodymyr Selenskyj ist ein großer Redner, der seine Zuhörer meist mit Videobotschaften erreicht. Jetzt sind 16 bemerkenswerte Reden als Buch erschienen.
und in unsicherer Lage gesicherte Informationen geben. Permanent, einfach, uneitel. Er durfte sich nicht zum Sprachrohr seines Volkes machen und durfte sich nicht als Welterklärer aufspielen. Er sollte nicht zum Volk sprechen, sondern mit dem Volk und am besten in der Sprache des Volkes. Alle gehörten jetzt zusammen, und der Präsident schien mitten unter ihnen zu sein. Ein bisschen Pathos gehörte dann auch dazu: „Geraten Sie nicht in Panik. Wir sind stark. Wir sind zu allem bereit. Wir werden jeden bezwingen. Weil wir die Ukraine sind. Ruhm der Ukraine.“Da war es kurz nach sechs Uhr. Da hatte der russische Angriffskrieg wenige Stunden zuvor begonnen.
Seine Reden ans ukrainische Volk sind direkt, mit kurzen Sätzen und schnell auf den Punkt kommend. Anders seine Ansprachen ans Ausland – die in diesem Sinne wirklich zu Botschaften aus der Ukraine werden. Rhetorisch geschult trat er schon vor dem Überfall vor der UN-Vollversammlung im September 2019 auf. Er outete sich damals bescheiden als Anfänger auf dem Parkett der Weltpolitik, und doch war er professioneller als die meisten im Saal. Natürlich erinnerte er an den bestenfalls am Rande wahrgenommenen Krieg im Donbass, der zu dieser Zeit schon fünf Jahre währte. Kein Vergleich war Selenskyi zu klein, um auf die Gefahren eines Wegsehens hinzuweisen, das nach seinen Worten die Grundlage für zwei Weltkriege schuf. „Vertrauen
Sie nicht darauf, der Krieg sei weit entfernt“, sagte er damals. Eine Prophetie. Schließlich las Selenskyi den Staatschefs aus einem Buch vor – dem Vorwort von Erich Maria Remarques Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“.
Das ist der Schlüssel seiner wirkmächtigen Rede: auf historische Vergleiche zurückzugreifen, diese mit Literatur zu unterfüttern und so ein finsteres Szenario zu entwickeln, dem sich die Zuhörer nur schwer entziehen können. Vor dem britischen Parlament stellt er den Abgeordneten Anfang März in einer Videobotschaft die Frage: „Sein oder Nichtsein?“Zwei Wochen später wird er im US-Kongress zugeschaltet und ruft den Politikern die Erinnerung an die Terroranschläge vom 11. September 2001 wach. Martin Luther Kings eindringlicher Satz „I have a dream“wird bei ihm zu „I have a need“, ich brauche Unterstützung. Vor der israelischen Knesset zitiert er Golda Meir: „Wir wollen am Leben bleiben. Unsere Nachbarn wollen unseren Tod. Das ist keine Frage, die Spielraum für Kompromisse hinterlässt.“Golda Meir war von 1969 bis 1974 Ministerpräsident Israels, vor allem aber: Sie wurde in Kiew geboren. Schließlich der Deutsche Bundestag, den Selenskyi gleichfalls im März an die Berliner Luftbrücke erinnerte und die aktuelle Lage mit einer großen Mauer zwischen Krieg und Frieden beschrieb, die sich durch Europa ziehe. Große Worte auch diesmal: „Herr Bundeskanzler Scholz! Reißen Sie diese Mauer nieder!“
Die Botschaft dieser historischen Analogien ist: Geschichte kann sich wiederholen. Sie muss es aber nicht. Es liegt an uns. Jetzt. Kaum einer der Vergleiche wird der Vergangenheit gerecht. Doch jeder hinterlässt seine Wirkung; wie auch die Frage, ob Selenskyi, der einstige TV-Produzent und Comedian, nicht nur das Zeug zum imposanten Redner hat, sondern auch zum Demagogen. Auch diese Frage muss sich die Zuhörerschaft seiner Reden und die Leserschaft eines vom Autor so ungeliebten Buches stellen: „Ich wäre der glücklichste Mensch der Welt, wäre das Buch, das Sie in Händen halten, nie veröffentlicht worden“, schreibt er in der Einleitung.
Worte des Präsidenten, die gleichfalls auf Verbrüderung zielen.