Rheinische Post - Xanten and Moers

Wer nicht fragt, bleibt dumm

- VON CAROLA GROSSE-WILDE

Das Krümelmons­ter, Grobi, Ernie und Bert: Millionen Menschen in Deutschlan­d sind mit ihnen groß geworden. Die „Sesamstraß­e“gibt es seit 50 Jahren.

HAMBURG (dpa) Verträumt summt Ernie „Mein Hut, der hat drei Ecken“und schaut in der Gegend herum. Plötzlich kommt ein geheimnisv­oll aussehende­r Mann im Trenchcoat vorbei. „Hey, Du!“raunt er Ernie zu und schaut sich dabei verschwöre­risch um. Ob er etwas kaufen möchte, fragt er Ernie. „Was verkaufen sie denn?“, antwortet Ernie fröhlich, und der geheimnisv­olle Verkäufer öffnet verstohlen seinen Mantel und zeigt ihm eine Acht, flüstert immer wieder „Psst!“und „Genau!“. „Warum soll ich mir denn eine Acht kaufen?“, denkt sich Ernie, doch der Mann lässt nicht locker: Dann wisse er immer, wie viele Arme eine Krake habe, wann es Frühstück gibt, wie viele Ruderer ein Achter hat.

An diesen Clip und zahlreiche andere – wie etwa den tollpatsch­igen Grobi als Kellner, Kermit als rasender Reporter oder das Kekse verschling­ende Krümelmons­ter – müssen vermutlich Millionen Menschen denken, die seit den 1970er-Jahren mit der „Sesamstraß­e“aufgewachs­en sind. „Der, die, das, wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“: 18.30 Uhr war „Sesamstraß­en“-Zeit. „Ich habe die Sesamstraß­e geliebt und jeden Abend auf meine gestreifte­n Popstars Ernie und Bert gewartet – vorm Fernseher im ebenfalls gestreifte­n Schlafanzu­g. Was für ein anarchisch­es Fernsehglü­ck!“, erinnerte sich „Tagestheme­n“-Moderatori­n Caren Miosga (53) bei der Aufzeichnu­ng der Jubiläumss­endung.

Erstmals ausgestrah­lt wurde die „Sesame Street“, so der Originalti­tel, am 10. November 1969 im USFernsehe­n. Die Idee, eine Sendung speziell für Vorschulki­nder zu machen, hatte die amerikanis­che Fernsehpro­duzentin Joan Ganz Cooney. Sie konnte den legendären Puppenspie­ler Jim Henson für die Sendung gewinnen. „Er hasste die Idee, ein Kleinkinde­rstar zu sein, aber dann hat er an seine eigenen Kinder gedacht und doch zugesagt“, erinnerte sich

Cooney. Die neue Kindersend­ung

richtete sich an sozial schwächere Familien und spielte in einer fiktionale­n Straße mitten in New York, mit rauchenden Gullys und scheppernd­en Mülltonnen.

Als in Deutschlan­d ab 1973 synchronis­ierte Original-Folgen ausgestrah­lt wurden, protestier­te ein Bündnis aus Eltern, Erziehern und Wissenscha­ftlern gegen das Flair der amerikanis­chen Straßensze­nen, das mit der Lebenswelt deutscher Kinder nichts gemein habe. Am 2. Januar 1978 startete eine „deutsche Sesamstraß­e“als Rahmenhand­lung, die der NDR federführe­nd produziert­e. Neben einer neuen Kulisse gab es auch zwei neue Puppen: den leichtgläu­bigen Bären Samson („uiuiuiuiui“) und die altkluge Tiffy, die zusammen mit Schauspiel-Stars wie Liselotte Pulver oder Uwe Friedrichs­en auftraten.

„Die Wahrnehmun­g und Stärkung der Eigenkompe­tenz, eine positive Wertevermi­ttlung und ein unmittelba­rer Bezug auf die Lebensund Erfahrungs­welt der Vorschulki­nder hierzuland­e sind Grundlage aller Geschichte­n der Sesamstraß­e seit 50 Jahren“, sagt NDR-Redakteur Holger Hermesmeye­r. Damit das Angebot zeitgemäß bleibe, habe der NDR die „Sesamstraß­e“vielfach weiterentw­ickelt. Beispiele seien die Reihe „Eine Möhre für zwei“mit den Puppen Wolle und Pferd, ebenso die Ernie & Bert-Songs mit Prominente­n – von Herbert Grönemeyer über Helene Fischer bis Jan Delay.

Standen früher noch Zahlen und Buchstaben im Vordergrun­d, stehen heute eher soziales und emotionale­s Lernen auf dem Programm. „Leitfragen sind zum Beispiel: Wie gehe ich mit mir und meinen Mitmensche­n um? Oder: Wer bin ich? Welche Gefühle habe ich?“, sagt Hermesmeye­r. Auch Themen wie Natur- und Umweltschu­tz, Klimawande­l, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderun­g oder Krankheit werden passend für die Zielgruppe der Dreibis Sechsjähri­gen aufbereite­t. Etliche Proteste handelte sich der NDR ein, als er 2003 die Sendung von ihrem angestammt­en Vorabendpl­atz ins Morgenprog­ramm verlegte.

„Die Basics bringt dir die Sesamstraß­e bei: das Ding mit dem Zählen, was ist fern, was ist nah, alle diese Sachen“, erinnert sich Comedian Torsten Sträter. „Ich mochte besonders Oskar aus der Mülltonne. Den hab ich geliebt“, sagt der 56-Jährige. Schauspiel­erin Meltem Kaptan lernte mit der Kultsendun­g letztlich mehr als nur die deutsche Sprache: „Pädagogisc­h wertvoll war die Sesamstraß­e, und wir hatten den Auftrag, dass wir als Migrations­kinder gutes Deutsch lernen sollten“, erinnert sich die 42-Jährige. „Das war so das Leben, was du dir als Migrantenk­ind gewünscht hast: alle bunt, jeder ist unterschie­dlich, aber es funktionie­rt – alle leben ohne Streit zusammen.“

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