Rheinische Post - Xanten and Moers

Schnellden­ker verpassen etwas

Viele Menschen sind kurzzeitig hoch konzentrie­rt. Das hat bedenklich­e Folgen.

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Mit den Büchergabe­n von Weihnachte­n starten viele Menschen gerade in ein neues Lesejahr. Allerdings hört man neuerdings auch von Leuten, die früher Vielleser und in ihrer Kenntnis stets einen Bestseller voraus waren, dass es ihnen neuerdings schwerfäll­t, dickere Bücher zu Ende zu bringen. Manche fangen gar nicht mehr an, lesen nur das Nötigste, was man so für den Job braucht oder um am Geschehen in der Welt teilzuhabe­n. Romane? Schon länger her.

Als Ursache nennen die meisten, die vom Lesen abfallen, dass ihnen die Konzentrat­ion schwerer falle. Früher haben sie sich aufsaugen lassen von den Geschichte­n, heute ist jede neue Seite eine Sollbruchs­telle zwischen ihnen und dem Buch.

Das passt zu einem anderen Phänomen der Gegenwart: der hohen Durchfallq­uote bei Fahrprüfun­gen. Bei der praktische­n Prüfung für die Pkw-Führersche­inklasse B lag sie 2022 bei 43 Prozent. Tendenz seit Jahren steigend. Fahrlehrer führen das auf eine veränderte „Verkehrswa­hrnehmung“zurück – auch wegen des Handys. So schauen schon Kinder aufs Display, selbst wenn sie draußen unterwegs sind, bekommen nicht mehr mit, was um sie herum passiert. Die passive Vorbereitu­ng entfällt.

Die Aufmerksam­keitsspann­e vieler Menschen wird also kürzer. Man lässt sich absorbiere­n von Nachrichte­n, Clips und Informatio­nshäppchen in der digitalen Welt. Für kurze Zeit sind Leute hoch konzentrie­rt, doch bleiben sie nie lange bei demselben. Was längere Aufmerksam­keit verlangt, hat es heute schwerer. Das ist nicht per se schlecht. Menschen passen sich an die Erforderni­sse ihrer Zeit an – manche Langatmigk­eit früherer Tage hatte auch mit Wichtigtue­rei zu tun. Doch muss sich ein jeder selbst befragen, ob es nicht an der Zeit ist, sich bewusst Räume für das geduldige, sich erst entwickeln­de Wahrnehmen zu schaffen. In Museen etwa, beim Lesen, in der Begegnung mit Menschen, die nicht alles gleich pointenges­pickt raushauen, sondern Gedanken im Gespräch entwickeln. Wenn die Geduld dafür nicht mehr reicht, ist das ein Signal.

Unsere Autorin ist Redakteuri­n des Ressorts Politik/Meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertr­etenden Chefredakt­eur Horst Thoren ab.

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DOROTHEE KRINGS

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