Rheinische Post - Xanten and Moers
Die deutsche Angst vor der Aktie
Trotz steigender Aktionärszahlen ist diese Anlageform immer noch wenig verbreitet. Vielen ist die Börse zu riskant oder zu kompliziert.
DÜSSELDORF Wenn man das vergangene Jahr als Messlatte nimmt, hat die Börse die Deutschen nicht glücklich gemacht: Der Deutsche Aktienindex (Dax) als bekanntester Maßstab hat 2022 etwa zwölf Prozent eingebüßt. Etwa 140 Milliarden Euro beträgt nach Angaben der DZ Bank der Kursverlust bei Wertpapieren und Fonds im vergangenen Jahr. Da kann man die Lust am Investment in Aktien und Co verlieren. Jedenfalls, wenn man zum falschen Zeitpunkt ein- oder ausgestiegen ist.
Die Aktienkultur, die in Deutschland selbst von Wohlmeinenden gern ein „zartes Pflänzchen mit Wachstumschancen“genannt wird, ist bei uns ohnehin immer noch weniger stark ausgeprägt als in anderen Ländern. Im Jahr 2021 betrug laut dem Deutschen Aktieninstitut (DAI) der Anteil der über 14-Jährigen, die direkt in Aktien investiert hatten, kaum mehr als sieben Prozent. Geld in Fonds angelegt hatten rund zwölf Prozent. Zahlen für 2022 legt das DAI noch in diesem Monat vor. Aber auch wenn die gestiegen sein dürften, kann man die Deutschen noch nicht als Paradebeispiel für Aktieninvestoren bemühen. Da sind die Niederlande mit einer Quote von 30 Prozent (nur Direktinvestments), Japan (28 Prozent), die USA (25 Prozent) und Großbritannien (24 Prozent) deutlich stärker.
Hierzulande sind stattdessen noch 30 Prozent der acht Billionen Euro, auf die das Geldvermögen der Deutschen 2022 gestiegen ist, in Sichteinlagen geparkt – auf Sparbüchern, Tages- und Festgeldkonten, in großen Teilen sogar auf Girokonten. Aktien sind für viele weiter ein Fremdwort. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das so ist, stößt man immer wieder auf dieselben Thesen: Die Deutschen seien traditionell risikoscheu, insgesamt ein bisschen konservativer als der Rest der Welt. Mitunter reicht die Argumentationskette zurück bis in die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in die Zeit der großen Inflation, als viele Menschen ihr Vermögen verloren.
Nun kennen die wenigsten von uns noch Menschen, die dieses Horrorszenario live miterlebt haben. So richtig zugkräftig ist das Argument also nicht. Näher dran an einem brauchbaren Erklärungsmuster ist man, wenn man auf eine Umfrage der HDI-Lebensversicherung aus dem Dezember 2022 schaut. Kernaussage: 40 Prozent der 4000 Befragten war die Anlage in Aktien demnach zu riskant und/oder zu kompliziert. Und während in Amerika die Menschen über Aktie und Altersvorsorge auch in den Familien reden, schalten bei uns viele ab, wenn Vokabeln wie Kurs-GewinnVerhältnis, Dividendenrendite und Thesaurierung auftauchen.
Doch das nimmt womöglich ab, je jünger man ist: „Junge Menschen sind Aktien und Fonds gegenüber deutlich aufgeschlossener“, sagt Michael Stappel, bei der DZ Bank verantwortlich für die Studie
zum Geldvermögen. Er attestiert den Deutschen generell steigendes Interesse an Wertpapieren und belegt dies mit der wachsenden Zahl an entsprechenden Depots. Deren Zahl habe 2017 noch bei 22,2 Millionen gelegen, im September 2022 schon bei 29,4 Millionen. Wobei es natürlich sein kann, dass die eine oder der andere mehr als ein Depot im Portfolio hat. Denn bei aller möglichen Begeisterung Jüngerer für die Börse dürften der Krieg in der Ukraine und die nachfolgende Energiekrise so manche Investoren verunsichert haben – vor allem unerfahrene, zu denen zwangsläufig jüngere Menschen gehören.
Auch Stappel räumt jedenfalls ein, dass viele Investoren „immer noch zu tief in festverzinslichen Anlagen stecken“. Das ist lediglich eine Gruppe der Geldanleger. Eine andere besteht aus Zockern und Spekulanten, die die Börse als kurzfristiges Geldvermehrungsinstrument begreifen. Wenn das funktioniert, ist alles gut. Wenn nicht, beginnt bei vielen das Wehklagen, das bei manchen in die totale und dauerhafte, zumindest langfristige Abkehr vom Aktienmarkt mündet. Viel zu klein ist dagegen die Gruppe derer, die verinnerlicht hat, dass Aktien zur Vermögensbildung beitragen und über einen langen Zeitraum kaum Verlustrisiken bergen. Das setzt aber voraus, dass man angelegtes Geld mindestens über Jahre hinweg nicht für andere Zwecke benötigt. Wie zum Beispiel in der Energiekrise, in der man sicher Geld für Energie und Lebensmittel braucht.
Vielleicht könnte eine bessere staatliche Förderung die „German Angst“vor der Aktie lindern. Viele plädieren für eine stärkere Förderung von Aktiensparplänen oder befürworten wie Stappel Modelle, bei denen gesetzlich gefördertes Sparen keine Beitragsgarantie voraussetzt, die für Anbieter weniger attraktiv ist. Aber nicht zu wissen, ob man wenigstens das Geld rauskriegt, was man eingezahlt hat, ist manchen vermutlich auch zu riskant.