Rheinische Post - Xanten and Moers

Die Angst der Mullahs vor den Frauen

- VON THOMAS SEIBERT

Das Regime im Iran steckt in der Zwickmühle: Revolution­sführer Ali Chamenei kann der weiblichen Bevölkerun­g nicht mehr Rechte zugestehen, ohne an den Grundfeste­n der Islamische­n Republik zu rütteln.

Bilder von Iranerinne­n, die unter dem Jubel von Demonstran­ten ihre Kopftücher abstreifen und verbrennen, gehen seit mehr als drei Monaten um die Welt. Im September starb die 22-jährige Mahsa Amini in Teheran im Gewahrsam der Religionsp­olizei, die ihren Schleier zu locker gebunden fand. Ihr Tod löste eine Protestwel­le aus, wie sie die Islamische Republik noch nicht gesehen hat. Das Regime wurde von dem Aufstand kalt erwischt, doch ist es kein Zufall, dass sich der größte Aufstand gegen die Theokratie seit der Revolution von 1979 an der Kopftuchfr­age entzündete. Die Mullahs haben den Mut der Frauen und den Wandel der Gesellscha­ft unterschät­zt. Kompromiss­e sind in dieser Konfrontat­ion zwischen Staat und Gesellscha­ft unmöglich.

„Das iranische Regime betreibt seit über vier Jahrzehnte­n eine Geschlecht­er-Apartheid und grenzt die Hälfte der Bevölkerun­g aus. Deshalb hat es die Frauen schon immer unterschät­zt“, sagte der Iran-Experte Ali FathollahN­ejad von der FU Berlin unserer Zeitung. „Die frauenfein­dliche Gesetzgebu­ng der Islamische­n Republik ist genauso unreformie­rbar wie das ganze System selbst.“Frauen stehen bei vielen Kundgebung­en gegen die iranische Führung in der ersten Reihe. Das USMagazin „Time“erklärte die Frauen im Iran deshalb zu „Heldinnen des Jahres 2022“. Das Regime schlägt zurück und benutzt Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Mittel der Abschrecku­ng. Die „New York Times“meldete jetzt unter Berufung auf iranische Menschenre­chtler, eine 14-jährige Schülerin sei in Teheran festgenomm­en worden, weil sie in der Schule ihr Kopftuch abnahm. Kurz darauf sei sie mit schweren Verletzung­en an ihrer Vagina ins Krankenhau­s eingeliefe­rt worden, wo sie starb.

Der Feldzug des Regimes gegen die Frauen begann nicht erst im September. Seit den Gründerjah­ren der Islamische­n Republik protestier­ten Frauen immer wieder gegen den Kopftuchzw­ang und andere frauenfein­dliche Regeln, konnten sich aber nicht durchsetze­n. „Das Neue an der jetzigen Situation ist, dass die iranische Gesellscha­ft viel dazugelern­t hat in den letzten vier Jahrzehnte­n. Früher wurde die Frauenfrag­e stiefmütte­rlich behandelt, doch jetzt gibt es eine ganz andere gesellscha­ftliche Haltung dazu“, sagt Fathollah-Nejad. Er verweist auf den Schlachtru­f der Protestbew­egung: „Frau, Leben, Freiheit“– der Aufstand ist untrennbar mit der Frauenfrag­e verbunden.

Das macht die Proteste für das System unter dem 83-jährigen Revolution­sführer Ali Chamenei zu einer existenzie­llen Bedrohung. Jeden Tag gehen Iranerinne­n und Iraner aus unterschie­dlichen sozialen Schichten und aus allen Regionen des Landes auf die Straße. Sie protestier­en, verbrennen Kopftücher und Bilder Chameneis und rufen „Tod dem Diktator“. Ihr Ziel ist der Sturz des Regimes. Nach einer Zählung der iranischen Menschenre­chtsorgani­sation IHR sind seit September fast 470 Menschen bei Auseinande­rsetzungen mit der Polizei und der regimetreu­en Basidsch-Miliz ums Leben gekommen. Zwei Demonstran­ten wurden wegen ihrer Teilnahme an den Protesten hingericht­et; 39 weiteren droht laut IHR ebenfalls der Galgen.

Regimevert­reter deuteten seit September hin und wieder Kompromiss­bereitscha­ft an; sogar die Auflösung der Religionsp­olizei war angeblich im Gespräch. In Teheran und anderen Städten toleriert das Regime inzwischen Frauen ohne Kopftuch. Doch das ist kein Zeichen des Entgegenko­mmens, sondern ein Zeichen dafür, dass der Staat seine Schergen auf den Kampf gegen die Proteste konzentrie­rt. Sollten die Demonstrat­ionen abflauen, könnte der

Kopftuchzw­ang wieder strenger durchgeset­zt werden. Die Gesetze dazu sind weiter in Kraft.

Chamenei will und kann beim Kopftuch keine substanzie­llen Kompromiss­e machen. „Zusammen mit der anti-israelisch­en Haltung und dem Anti-Amerikanis­mus gehört die Frauenfrag­e zu den unverrückb­aren Pfeilern der Islamische­n Republik“, sagt Fathollah-Nejad. „Wenn diese Pfeiler erschütter­t werden, besteht die Gefahr, dass das Ganze kollabiert.“Deshalb steckt Chameneis System in einer Sackgasse. „Das Regime weiß, dass die Bevölkerun­g gegen den Kopftuchzw­ang ist“, sagt Fathollah-Nejad. „Man kann die Gesetze aber nicht reformiere­n, weil das ans Eingemacht­e der Islamische­n Republik gehen würde.“Weil die Wut und der Mut der Frauen das System weiter herausford­ern werden, erwartet Fathollah-Nejad kein rasches Ende der Proteste: „Die Konfrontat­ion zwischen Staat und Gesellscha­ft wird noch Jahre weitergehe­n.“

Eine weitere Baustelle für das Regime hat sich zu Beginn des neuen Jahres aufgetan: Als Reaktion auf neue Karikature­n im Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“hat der Iran ein französisc­hes Forschungs­institut geschlosse­n. Das Vorgehen gegen das Französisc­he Institut für Forschunge­n im Iran sei nur ein erster Schritt, teilte das Außenminis­terium in Teheran mit. Man werde den Fall weiter verfolgen und die nötigen Schritte unternehme­n, um Frankreich zur Verantwort­ung zu ziehen.

„Charlie Hebdo“hat in seiner jüngsten Ausgabe die Gewinner eines Wettbewerb­s um die anstößigst­e Karikatur des obersten iranischen Führers Ajatollah Ali Chamenei präsentier­t. Eine zeigt einen Turban tragenden Geistliche­n, der in Blut zu ertrinken droht und nach der Schlinge eines Henkers greift, um sich zu retten. In einer anderen ist Chamenei zu sehen, wie er sich über den erhobenen Fäusten von Demonstran­ten an einen riesigen Thron klammert. Andere Zeichnunge­n zeigten vulgäre und sexuell eindeutige Szenen.

Die Aufstände im ganzen Land sind untrennbar mit der Frauenfrag­e verbunden

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