Rheinische Post - Xanten and Moers
Die Angst der Mullahs vor den Frauen
Das Regime im Iran steckt in der Zwickmühle: Revolutionsführer Ali Chamenei kann der weiblichen Bevölkerung nicht mehr Rechte zugestehen, ohne an den Grundfesten der Islamischen Republik zu rütteln.
Bilder von Iranerinnen, die unter dem Jubel von Demonstranten ihre Kopftücher abstreifen und verbrennen, gehen seit mehr als drei Monaten um die Welt. Im September starb die 22-jährige Mahsa Amini in Teheran im Gewahrsam der Religionspolizei, die ihren Schleier zu locker gebunden fand. Ihr Tod löste eine Protestwelle aus, wie sie die Islamische Republik noch nicht gesehen hat. Das Regime wurde von dem Aufstand kalt erwischt, doch ist es kein Zufall, dass sich der größte Aufstand gegen die Theokratie seit der Revolution von 1979 an der Kopftuchfrage entzündete. Die Mullahs haben den Mut der Frauen und den Wandel der Gesellschaft unterschätzt. Kompromisse sind in dieser Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft unmöglich.
„Das iranische Regime betreibt seit über vier Jahrzehnten eine Geschlechter-Apartheid und grenzt die Hälfte der Bevölkerung aus. Deshalb hat es die Frauen schon immer unterschätzt“, sagte der Iran-Experte Ali FathollahNejad von der FU Berlin unserer Zeitung. „Die frauenfeindliche Gesetzgebung der Islamischen Republik ist genauso unreformierbar wie das ganze System selbst.“Frauen stehen bei vielen Kundgebungen gegen die iranische Führung in der ersten Reihe. Das USMagazin „Time“erklärte die Frauen im Iran deshalb zu „Heldinnen des Jahres 2022“. Das Regime schlägt zurück und benutzt Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Mittel der Abschreckung. Die „New York Times“meldete jetzt unter Berufung auf iranische Menschenrechtler, eine 14-jährige Schülerin sei in Teheran festgenommen worden, weil sie in der Schule ihr Kopftuch abnahm. Kurz darauf sei sie mit schweren Verletzungen an ihrer Vagina ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo sie starb.
Der Feldzug des Regimes gegen die Frauen begann nicht erst im September. Seit den Gründerjahren der Islamischen Republik protestierten Frauen immer wieder gegen den Kopftuchzwang und andere frauenfeindliche Regeln, konnten sich aber nicht durchsetzen. „Das Neue an der jetzigen Situation ist, dass die iranische Gesellschaft viel dazugelernt hat in den letzten vier Jahrzehnten. Früher wurde die Frauenfrage stiefmütterlich behandelt, doch jetzt gibt es eine ganz andere gesellschaftliche Haltung dazu“, sagt Fathollah-Nejad. Er verweist auf den Schlachtruf der Protestbewegung: „Frau, Leben, Freiheit“– der Aufstand ist untrennbar mit der Frauenfrage verbunden.
Das macht die Proteste für das System unter dem 83-jährigen Revolutionsführer Ali Chamenei zu einer existenziellen Bedrohung. Jeden Tag gehen Iranerinnen und Iraner aus unterschiedlichen sozialen Schichten und aus allen Regionen des Landes auf die Straße. Sie protestieren, verbrennen Kopftücher und Bilder Chameneis und rufen „Tod dem Diktator“. Ihr Ziel ist der Sturz des Regimes. Nach einer Zählung der iranischen Menschenrechtsorganisation IHR sind seit September fast 470 Menschen bei Auseinandersetzungen mit der Polizei und der regimetreuen Basidsch-Miliz ums Leben gekommen. Zwei Demonstranten wurden wegen ihrer Teilnahme an den Protesten hingerichtet; 39 weiteren droht laut IHR ebenfalls der Galgen.
Regimevertreter deuteten seit September hin und wieder Kompromissbereitschaft an; sogar die Auflösung der Religionspolizei war angeblich im Gespräch. In Teheran und anderen Städten toleriert das Regime inzwischen Frauen ohne Kopftuch. Doch das ist kein Zeichen des Entgegenkommens, sondern ein Zeichen dafür, dass der Staat seine Schergen auf den Kampf gegen die Proteste konzentriert. Sollten die Demonstrationen abflauen, könnte der
Kopftuchzwang wieder strenger durchgesetzt werden. Die Gesetze dazu sind weiter in Kraft.
Chamenei will und kann beim Kopftuch keine substanziellen Kompromisse machen. „Zusammen mit der anti-israelischen Haltung und dem Anti-Amerikanismus gehört die Frauenfrage zu den unverrückbaren Pfeilern der Islamischen Republik“, sagt Fathollah-Nejad. „Wenn diese Pfeiler erschüttert werden, besteht die Gefahr, dass das Ganze kollabiert.“Deshalb steckt Chameneis System in einer Sackgasse. „Das Regime weiß, dass die Bevölkerung gegen den Kopftuchzwang ist“, sagt Fathollah-Nejad. „Man kann die Gesetze aber nicht reformieren, weil das ans Eingemachte der Islamischen Republik gehen würde.“Weil die Wut und der Mut der Frauen das System weiter herausfordern werden, erwartet Fathollah-Nejad kein rasches Ende der Proteste: „Die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft wird noch Jahre weitergehen.“
Eine weitere Baustelle für das Regime hat sich zu Beginn des neuen Jahres aufgetan: Als Reaktion auf neue Karikaturen im Satiremagazin „Charlie Hebdo“hat der Iran ein französisches Forschungsinstitut geschlossen. Das Vorgehen gegen das Französische Institut für Forschungen im Iran sei nur ein erster Schritt, teilte das Außenministerium in Teheran mit. Man werde den Fall weiter verfolgen und die nötigen Schritte unternehmen, um Frankreich zur Verantwortung zu ziehen.
„Charlie Hebdo“hat in seiner jüngsten Ausgabe die Gewinner eines Wettbewerbs um die anstößigste Karikatur des obersten iranischen Führers Ajatollah Ali Chamenei präsentiert. Eine zeigt einen Turban tragenden Geistlichen, der in Blut zu ertrinken droht und nach der Schlinge eines Henkers greift, um sich zu retten. In einer anderen ist Chamenei zu sehen, wie er sich über den erhobenen Fäusten von Demonstranten an einen riesigen Thron klammert. Andere Zeichnungen zeigten vulgäre und sexuell eindeutige Szenen.
Die Aufstände im ganzen Land sind untrennbar mit der Frauenfrage verbunden