Rheinische Post - Xanten and Moers
Ein Abschied, der zu Herzen geht
Diese Formulierung zeigt zunächst Einsicht in seinen Krankheitsverlauf. Er will und kann die Kraft nicht mehr aufbringen, um eine Leitungsstelle auszufüllen. Und er glaubt auch nicht, dass diese Kraft zurückkehrt. Aber man spürt auch Demut vor der Musik. Er will seine Ressourcen offenbar bündeln und einzig der Musik zugutekommen lassen: „Selbstverständlich bleibe ich – solange ich lebe – mit der Musik engstens verbunden und bin bereit, auch künftig als Dirigent zu wirken, auch und gerade mit der Staatskapelle Berlin.“Das ist auch ein Hilferuf. Man möge ihn nicht abschreiben. Denn er braucht die Musik wie ein Elixier.
Nun erleben wir im Angesicht der Krankheit die Transformation eines Dirigenten. Früher war Barenboim überall, er liebte Herausforderungen,
und sein West-Eastern Divan Orchestra (in dem Palästinenser und Israelis spielen) erlebten wir alle als seine wunderbare Mission, mit der er in jedem Konzert einen musikalischen Funken Versöhnung auf die Welt überspringen ließ. Nun dürfte sich sein Kalender mehr und mehr ausdünnen, der Allgegenwärtige verliert an ebendieser Omnipräsenz, und zu Orchestern wird er als seltener Gast zurückkehren – sehnlichst vermisst und enthusiastisch begrüßt. Sein Klavierspiel dürfte er ebenfalls reduzieren, nicht nur in der Zahl der Auftritte, sondern auch in der Opulenz des Repertoires. Die Kraftfresser von Liszt, Rachmaninow, selbst von Beethoven dürften für ihn wohl unerreichbar geworden sein.
Für Berlin bedeutet das nun: Es herrscht Klarheit, aber es tritt keine überraschende Lage ein. Hinter den Kulissen gab es zuletzt etliche Sondierungsgespräche. Spätestens seit Barenboim das Dirigat bei der festlichen Neuinszenierung des von ihm geliebten „Ring des Nibelungen“stornieren und an Christian Thielemann und seinen Kapellmeister Robert Guggeis weiterreichen musste, war jedermann in Berlin klar: Die Zukunft der Staatsoper muss verhandelt werden. Barenboim wusste das. Denkbar ist, dass nun in Berlin ein ebensolcher Gespensterprozess beginnt wie vor einigen Jahren, bevor Kirill Petrenko zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker gekürt wurde. Es kann aber auch sein, dass schon bald der Name von Christian Thielemann als Nachfolger genannt wird.
Manche sagen, dass diese Neunte zu Silvester Barenboims letzte gewesen sein könnte. Eine vorschnelle Vermutung, denn man unterschätze die Energien von Dirigenten nicht. Vielleicht wird uns ein Daniel Barenboim, der ausgiebig Zeit zur Regeneration bekommt, eines Tages mit einer wunderbaren Rückkehr beglücken; der heilende Umgang mit Musik hat schon andere Wunder vollbracht.
Zwar dürfte eine neuerliche Neunte unter seiner Leitung kaum noch „feuertrunken“ausfallen. Aber mit größter Gewissheit wird jeder im Saal ihn das kollektive Glück spüren lassen, „eines Freundes Freund zu sein“.
Der 80-jährige Dirigent Daniel Barenboim ist von seinem Amt als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper zurückgetreten. Damit zeigt er Einsicht in seine Krankheit und Demut vor der Musik.