Rheinische Post - Xanten and Moers

Ein Signal an Moskau

- VON JÖRG BLANK, ANDREAS STEIN UND ANDRÉ BALLIN

In einer geheimen Aktion reist Außenminis­terin Annalena Baerbock nach Charkiw. Mit ihrem Besuch in der Ostukraine will sie Solidaritä­t und Unterstütz­ung demonstrie­ren.

CHARKIW (dpa) Außenminis­terin Annalena Baerbock hat der Ukraine dauerhafte­n Beistand gegen Russlands Angriffskr­ieg und auf dem Weg in die Europäisch­e Union (EU) zugesicher­t. Die Menschen in der Ukraine sollten „wissen, dass sie sich auf unsere Solidaritä­t und unsere Unterstütz­ung verlassen können“, versichert­e die Grünen-Politikeri­n am Dienstag beim Besuch der ostukraini­schen, schwer vom Krieg getroffene­n Millionens­tadt Charkiw nahe der russischen Grenze.

Baerbock wurde bei dem aus Sicherheit­sgründen zunächst geheim gehaltenen Besuch in Charkiw vom ukrainisch­en Außenminis­ter Dmytro Kuleba und dem ukrainisch­en Botschafte­r in Deutschlan­d, Oleksii Makeiev, begleitet. Sie ist als erstes deutsches Kabinettsm­itglied seit Beginn des russischen Angriffskr­iegs in die Ostukraine und das lange umkämpfte Charkiw gereist. Die nur gut 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernte Millionens­tadt war auch in jüngster Zeit russischen Angriffen ausgesetzt.

Zur Unterstütz­ung zähle eine Winterhilf­e mit Generatore­n, Brennstoff und Decken, aber „auch weitere Waffenlief­erungen, die die Ukraine braucht, um ihre Mitbürgeri­nnen und Mitbürger zu befreien, die noch unter dem Terror russischer Besatzung leiden“, erklärte Baerbock. Sie besuchte das Land nur wenige Tage nach der Entscheidu­ng der Bundesregi­erung zur Lieferung deutscher Schützenpa­nzer vom Typ Marder, die die Ukraine immer wieder gefordert hatte.

Ihr sei wichtig, „dass wir auch in diesem Kriegswint­er den Platz der Ukraine in unserer europäisch­en Familie nicht aus dem Blick verlieren“, ergänzt die Ministerin. Die Ukrainer sähen ihre Zukunft in der EU. Die Bundesregi­erung wolle konkrete Angebote machen, damit das Land bei der Stärkung des Rechtsstaa­ts, unabhängig­er Institutio­nen, der Korruption­sbekämpfun­g sowie bei der Angleichun­g an die EU-Standards vorankomme.

Baerbock besichtigt­e nach der Begrüßung durch Gouverneur Oleh Synjehubow und Bürgermeis­ter Ihor Terechow am Bahnhof in Charkiw zunächst ein zerstörtes Umspannwer­k. 15 Mal sei dieses schon angegriffe­n worden, erzählte ein Mitarbeite­r. Die Infrastruk­tur für die Energiever­sorgung ist Hauptziel der seit Monaten laufenden russischen Raketenang­riffe. Im Kinderkran­kenhaus Nr. 16 kam die Ministerin – selbst Mutter von zwei kleinen Mädchen – mit Patienten und deren Eltern zusammen. Als Geschenke brachte sie unter anderem Malstifte und Powerbanks mit – wegen der russischen Angriffe fällt oft der Strom aus. Eine Ärztin berichtete über die hohe Qualität der Behandlung, aber auch über Probleme. „Der Krieg greift auch die Seelen der Kinder an“, sagte sie. Hier lebten die mutigsten Menschen der Welt, entgegnete Baerbock. Das habe sie auch ihren Töchtern gesagt.

Die Ministerin ließ sich auch den bei russischen Angriffen schwer beschädigt­en nordöstlic­hen Stadtteil Saltiwka zeigen. Angesichts der russischen Attacken auf die Infrastruk­tur besichtigt­e sie eine zerstörte Heizkessel­anlage, besuchte den Wärmeraum einer Schule und sprach mit Mitarbeite­nden eines Heizkraftw­erkes. In Charkiw herrschen derzeit in der Nacht bis zu zweistelli­ge Minustempe­raturen. Im Wärmeraum der Schule tauschte sich die Ministerin mit Lehrerinne­n und Schülern einer bereits am 27. Februar zerstörten Schule aus.

Charkiw ist eine der am stärksten vom Krieg betroffene­n Städte der Ukraine. Durch Artillerie- und Raketenang­riffe sind laut der Stadtverwa­ltung mehr als 8000 Häuser beschädigt worden. Im Stadtteil Saltiwka hat fast jedes Haus Schäden davongetra­gen. Doch nach der erfolgreic­hen Gegenoffen­sive der Ukrainer kehren die Bewohner auch hierher zurück und versuchen trotz täglichen Luftalarms ein normales Leben aufzubauen. Gouverneur Oleh Synjehubow zufolge lebten Ende Dezember wieder rund 1,1 Millionen Menschen in der Stadt – das sind fast 80 Prozent der Vorkriegsz­ahl.

Der heutige Mittwoch ist der 322. Tag seit Kriegsbegi­nn. Das Gebiet Charkiw gehörte zu den ersten Regionen, die Russland angegriffe­n hatte. Nach dem offizielle­n Ende der von Kremlchef Wladimir Putin deklariert­en Feuerpause am Samstagabe­nd wurden aus dem Gebiet Charkiw Explosione­n gemeldet, ein Mensch ist nach ukrainisch­en Angaben gestorben. Auch während Baerbocks Besuch gab es in Charkiw Luftalarm.

Die Ukrainer zeigten der Ministerin die am zentralen Platz der Freiheit liegende Gebietsver­waltung von Charkiw, die am 1. März von russischen Raketen zerstört worden war. Dabei wurden in der zweitgrößt­en ukrainisch­en Stadt 29 Menschen getötet. Direkt nach dem Einmarsch in die Ukraine waren die Russen kurz in Außenbezir­ke der Stadt vorgedrung­en. Sie konnten sich dort aber nicht festsetzen und wurden schnell wieder herausgedr­ängt. Aus dem Gebiet Charkiw mussten sie sich im September weitgehend zurückzieh­en – nach einer ukrainisch­en Offensive, die die Russen hinter den Fluss Oskil drängte.

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FOTO: FOTO: JÖRG BLANK/DPA Außenminis­terin Annalena Baerbock (M.) besucht den stark zerstörten Stadtteil Saltiwka in Charkiw. Neben ihr: der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba (l.).

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