Rheinische Post - Xanten and Moers
Putins Potemkinsches Prinzip
Russlands Präsident lernte von seinen sowjetischen Vorbildern, wie man Schein als Sein verkauft. Doch dieser Leitsatz stößt an Grenzen, wenn sich die Probleme vor der Bevölkerung nicht mehr verstecken lassen.
Der Sieg ist eine ausgemachte Sache. Als die russische Armee vor knapp einem Jahr die Ukraine überfällt, liegen die Paradeuniformen im Marschgepäck. Kiew soll nach der Eroberung eine Demonstration russischer Militärmacht erleben. Doch es kommt anders. Der Enthauptungsschlag gegen die Führung in Kiew scheitert. Die Kremltruppen ziehen sich aus der Region zurück. Eine Kette schwerer Niederlagen folgt. Im Sommer fliehen russische Einheiten panisch aus Charkiw. Im Herbst ziehen die Besatzer aus dem annektierten Cherson ab. Russische Siege? Fehlanzeige. Die Paradeuniformen bleiben im Gepäck.
Warum, das zeigt die Geschichte einer anderen Uniform. Der Fallschirmjäger Pawel Filatjew kämpft im Februar 2022 für die Invasionstruppen im Süden. Mitten im Winter trägt er eine Herbstuniform, die er sich selbst hat kaufen müssen. Denn über eine Kampfmontur in passender Größe verfügt sein Regiment nicht. Als Filatjew seinen Helm verliert, gibt es keinen Ersatz. Im Lazarett lässt der Soldat seinem Frust freien Lauf: „In unserer Armee herrschen Korruption und Chaos. Sie ist technisch so heruntergekommen wie moralisch.“Filatjew stellt seinen Bericht ins Internet, bevor er ins Ausland flieht.
Die Aufzeichnungen sind eine einzige Anklage. Gegen Präsident Wladimir Putin, Armeeführung und Staatsmedien. Alles beginnt mit dem Wort „Spezialoperation“, das Filatjew für eine zynische Verharmlosung hält: „Es ist Krieg.“Und genau darauf sei die Armee nicht vorbereitet gewesen. Doch nicht nur die. Für Filatjew ist die Truppe so etwas wie das Spiegelbild einer kaputten, von Korruption durchseuchten Gesellschaft: „Alles ist mehr Schein als Sein.“
Es ist das alte Prinzip der Potemkinschen Dörfer, das zwar auf einer Legende beruht. Demnach ließ der Fürst Grigori Potemkin Dorfattrappen errichten, um die Zarin zu beeindrucken. In Wirklichkeit erzählte er wohl nur falsche Geschichten über echte Dörfer. Das Prinzip „Schein sticht Sein“ist im zaristischen Russland dennoch so verbreitet wie später in der Sowjetunion. Vor allem unter Generalsekretär Leonid Breschnew stehen all die Rekordernten nur noch auf dem Papier.
Und Putin? Die Breschnew-Jahre sind seine prägende Jugendzeit. Als KGB-Offizier wird ihm das Täuschen zur zweiten Natur. Das zeigt ein Rückblick auf Putins zwei Jahrzehnte an der Macht. Schon in seiner umjubelten Rede im Bundestag 2001 nutzt er zielsicher all die Worte, von denen er weiß, dass sein deutsches Publikum ihn dafür lieben wird. Er spricht vom europäischen Haus, von Humanismus und dem Geist der Freiheit, von Kant und Goethe. Und er versichert: „Das Hauptziel unserer Innenpolitik ist die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit.“Niemand könne Russland „je wieder in die Vergangenheit zurückführen“. Der Applaus ist frenetisch.
In der russischen Wirklichkeit tut Putin das Gegenteil. Er unterwirft Justiz, Medien und Wirtschaft seiner Kontrolle. Er baut bürgerliche Rechte ab, streicht Freiheiten zusammen und schafft eine Fassadendemokratie mit manipulierten Wahlen und machtlosen Scheinparlamenten. Erster Höhepunkt der Show ist 2008 die Rochade im Präsidentenamt mit Dmitri Medwedew. Putin zieht als Premier weiter die Fäden, während die Marionette Medwedew auf der Weltbühne den Liberalen gibt. 2011 gestehen beide die Inszenierung ein.
Der Erfolg scheint Putin lange recht zu geben. Zum Meisterwerk der Täuschung wird 2014 die Eroberung der
Krim. In den Wirren der Kiewer Maidanrevolution schickt der Kreml Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf die ukrainische Halbinsel, die dort einen prorussischen Putsch absichern. Es folgen ein Scheinreferendum und die Annexion. Anfangs streitet Putin den Militäreinsatz ab, lässt sich später für den Trick feiern. Ähnlich läuft es im Donbass. Spätestens da wird klar, dass Putin Russland sehr wohl in eine imperiale Vergangenheit zurückführen will.
Mit der Krim-Annexion erreicht Putin den Zenit seines Ruhms. Die Menschen in Russland feiern ihren Präsidenten als genialen Anführer. Doch der Triumph macht ihn blind. Putin begreift nicht, dass man auf Dauer keinen noch so schönen Schein als Sein ausgeben kann. Vor allem ökonomisch stagniert sein Potemkinsches Imperium. Die Einnahmen aus dem Gas- und Ölexport überdecken allzu lange den Mangel an Innovationskraft. Zugleich grassiert die Korruption. Und diese Probleme lassen sich nicht wegretuschieren. Die Menschen spüren es direkt, wenn Handwerker oder Ärztinnen die Hand aufhalten. Um abzulenken, schafft Putin ein System, in dem er als „guter Zar“auftritt, der leider zu oft von Versagern umgeben ist. TV-Formate wie Putins Bürgertalk „Direkter Draht“vermitteln den Eindruck, dass der Kremlchef handelt, sobald er von Missständen erfährt.
Das System entwickelt allerdings eine paradoxe Eigendynamik. Immer öfter halten Berater tatsächlich wichtige Informationen zurück, um nicht den Zorn des Herrschers auf sich zu ziehen. Die Folge: Putin lebt zunehmend in einer Scheinwelt. Er ist nicht mehr der geniale Täuscher, sondern der Getäuschte. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel soll schon 2014 daran gezweifelt haben, ob Putin noch „Kontakt zur Realität hat“. Das war nach der Krim-Eroberung. Acht Jahre später, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, fehlten Putin ganz offensichtlich entscheidende Informationen zu den Erfolgsaussichten.
Putin schuf eine Fassadendemokratie mit manipulierten Wahlen und Scheinparlamenten