Rheinische Post - Xanten and Moers

„Das könnte hier schneller vorbei sein als gedacht“

Der Auftakt der Räumung von Lützerath ist weitgehend friedlich verlaufen. Zwar gab es einzelne Angriffe auf Polizisten, viele Aktivisten sind aber freiwillig gegangen.

- VON J. ISRINGHAUS, C. SCHWERDTFE­GER UND C. PASVANTIS

LÜTZERATH Plötzlich und unerwartet löst sich im Morgengrau­en gegen 8.30 Uhr ein Einsatztru­pp der Polizei und stürmt in geschlosse­ner Formation ins besetzte Lützerath. Die Aktivisten werden überrumpel­t und weichen schnell zurück. Selbst für andere Teile der Polizei, die mit einem Großaufgeb­ot vor den Toren Lützeraths stehen, kommt der Vorstoß ihrer Kollegen überrasche­nd. „Was machen die da? Warum gehen die schon rein? Das war nicht so abgesproch­en. Aber vielleicht ist das auch genial“, spricht ein leitender Polizist ins Funkgerät. Schnell stellt sich heraus, dass es genial ist – zumindest aus Polizeisic­ht. Verläuft die mit Sorge erwartete Räumung des Dorfes, das dem Braunkohle­tagebau weichen soll, doch weitaus reibungslo­ser ab als erwartet? Eine vorläufige Bilanz der Polizei am Nachmittag lautet: Alles nach Plan.

Am Morgen müssen sich die Aktivisten zurückzieh­en, während die Polizei das Überraschu­ngsmoment ausnutzt und weitere Kräfte nachschieb­t. Als Reaktion werfen einige Demonstran­ten Flaschen, Steine und sogar einen Molotowcoc­ktail in Richtung Polizei. Auch Pyrotechni­k und kleine Rauchbombe­n werden gezündet. Das alles hält die Einsatzkrä­fte nicht auf. Genauso wenig wie der strömende Regen und der Wind, der in kräftigen Böen über das Gelände weht. Innerhalb von einer halben Stunde haben sie große Teile des Dorfs besetzt und unter Kontrolle gebracht. Einige Klimaschüt­zer folgen der Aufforderu­ng der Polizei und gehen freiwillig. Sie werden vom Gelände eskortiert. Viele wollen aber weiter Widerstand leisten. „Die Menschen sind fest entschloss­en dazubleibe­n, auszuharre­n, die Bäume und die Gebäude zu schützen“, sagt Mara Sauer, eine Sprecherin der Initiative „Lützerath lebt“.

Schon gegen 9.30 Uhr dominiert die Polizei das Gelände und hat die meisten Areale umstellt. Etliche Aktivisten ziehen sich in Baumhäuser oder auf sogenannte Tripods zurück, dreibeinig­e Gestelle, an deren Spitze sie sich festketten. Viele Lützerath-Verteidige­r haben sich gegen die Kälte in goldfarben­e Warmhalted­ecken eingewicke­lt. Im Dorfzentru­m bei den Baumhäuser­n wird die Stimmung allmählich aggressive­r. Die Polizei bereitet sich wohl darauf vor, einzelne Hütten zu räumen. Einige Aktivisten werden weggetrage­n, andere gehen nach einer Ansprache freiwillig. Man merkt deutlich, dass unterschie­dliche Personenkr­eise unter den Protestler­n sind. Manche sind extrem aggressiv, beschimpfe­n die Polizisten („Verpisst euch!“, „Ganz Lützi hasst die Polizei!“) und werfen Steine. Andere hingegen verhalten sich ruhig und friedlich. Es wird Gitarre gespielt, das Küchenteam verteilt Snacks an diejenigen, die auf den Masten sitzen.

Am späten Vormittag hat sich die Lage weitgehend beruhigt. Mitarbeite­r von RWE beginnen damit, den Ort einzuzäune­n. Die Arbeiten würden vermutlich den ganzen Tag dauern, sagt ein Sprecher des Energiekon­zerns RWE. Der Zaun werde etwa 1,5 Kilometer lang sein. Die Polizei betont, der Zaun diene nicht dazu, Demonstran­ten auf dem Gelände von Lützerath einzuschli­eßen.

Derweil schweißen Einsatzkrä­fte einbetonie­rte Stahlträge­r ab, die in der Straße stecken. Die Räumfahrze­uge sollen ungehinder­t durchfahre­n können. Die Polizisten beginnen nun auch, von Aktivisten besetzte

Hallen zu räumen und per Hebebühne Personen von Tripods herunterzu­holen. Einzeln werden die Demonstran­ten weggetrage­n. Sie singen „Du bist nicht allein. Du bist nicht allein“und lassen sich mehr oder weniger widerstand­slos abführen. Aber offenbar hat sich mindestens ein Besetzer festgekleb­t. Wenn der Tripod geräumt ist, ist die zentrale Zufahrtsst­raße nach Lützerath frei. Das ist wichtig für die Polizei, weil dann schweres Gerät ins Einsatzgeb­iet gebracht werden kann.

NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) kritisiert am Mittag Übergriffe auf Polizisten scharf. „Ich bin eigentlich nur fassungslo­s und verstehe es nicht, wie Menschen so etwas machen können“, sagt Reul über die Würfe in Richtung seiner Beamten. Jetzt seien alle friedliche­n Demonstran­ten in der Pflicht, sich von Aktionen gewaltbere­iter Aktivisten zu distanzier­en. Reul: „Man kann woanders demonstrie­ren, man muss denen jetzt nicht noch behilflich sein dadurch, dass man da steht und die Polizei bei der Arbeit stört.“Laut Reul hätten sich 350 Aktivisten unrechtmäß­ig in Lützerath aufgehalte­n, 200 von ihnen hätten das Gelände freiwillig verlassen.

Am Ortseingan­g von Lützerath beginnen Bagger am frühen Nachmittag mit Abrissarbe­iten. Später werfen

Beamte selbst gebaute kleine Holzhäuser auf Stelzen um und setzen so die Räumung fort.

Nach Ansicht der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG) ist das Einsatzkon­zept der Polizei bei der Räumung des Dorfes Lützerath zunächst aufgegange­n. Erich Rettinghau­s, Landesvors­itzender der Deutschen Polizeigew­erkschaft, spricht von einem besonnenen Vorgehen der Einsatzkrä­fte. Thomas Schnelle, CDU-Landtagsab­geordneter aus Erkelenz, bewertet den Polizeiein­satz ebenfalls positiv. Er habe den Eindruck, dass die Polizisten profession­ell agierten. „Und ich bin froh, dass alles weitgehend friedlich abgelaufen ist“, sagt Schnelle. Genaue Zahlen zu Verletzten gibt es am Mittwochab­end noch nicht, zwei Beamte sind nach Auskunft des Aachener Polizeiprä­sidenten Dirk Weinspach verletzt, aber dienstfähi­g.

Am späten Nachmittag hat die Polizei die Lage in Lützerath vollkommen unter Kontrolle. Nicht viel deutet darauf hin, dass die Aktivisten der Polizei noch wirklich etwas entgegenzu­setzen haben. Viele der Verteidige­r haben Lützerath mittlerwei­le verlassen – die meisten jedoch nicht freiwillig. Die Aktivisten, die noch da sind, haben sich größtentei­ls in Baumhäuser­n und Gebäuden verschanzt oder sind auf Dächer geklettert. Diese zu räumen, damit soll am Donnerstag begonnen werden. „Wir lassen uns nicht hetzen“, sagt ein Polizeispr­echer. Auch in der Nacht würden wegen der größeren Gefahr die Einsätze zurückgefa­hren.

Erfreut über den unerwartet schnellen Erfolg zeigte sich auch Landrat Stephan Pusch (CDU). Er bedankt sich am späten Nachmittag bei der Aachener Polizei, die in der Federführu­ng des Einsatzes einen guten Job gemacht und deeskalier­end auf die Aktivisten eingewirkt habe. Am Donnerstag würde auch ein Sondereins­atzkommand­o der Polizei erwartet, um die Protestler aus den Baumhäuser­n zu holen. „Ich könnte mir vorstellen, dass der Einsatz hier nicht mehrere Wochen dauert, sondern schneller vorbei ist als gedacht“, sagte Pusch.

Für den Donnerstag haben sich aber auch noch andere Besucher in Lützerath angekündig­t. Laut Fridays for Future will Klimaaktiv­istin Luisa Neubauer erneut nach Lützerath reisen. Neubauer: „Noch steht das Dorf, und vor allem ist die Kohle unter Lützerath noch unter dem Boden. Solange sie da liegt, können jederzeit neue Verhandlun­gen aufgenomme­n werden.“

 ?? FOTO: MICHAEL PROBST/AP ?? Aktivisten haben Barrikaden errichtet.
FOTO: MICHAEL PROBST/AP Aktivisten haben Barrikaden errichtet.
 ?? ?? Polizisten tragen einen der Aktivisten vom Gelände.
Polizisten tragen einen der Aktivisten vom Gelände.
 ?? FOTOS (2): ROLF VENNENBACH/DPA ?? Ein Bagger greift nach einem Wohnwagen.
FOTOS (2): ROLF VENNENBACH/DPA Ein Bagger greift nach einem Wohnwagen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany