Rheinische Post - Xanten and Moers

Hoffnung, Gewalt und Rückschläg­e

Grenzschüt­zer und Hilfsorgan­isationen melden den größten Andrang auf der Balkanrout­e seit 2016. Im serbischun­garischen Grenzgebie­t floriert das Geschäft der Menschensc­hmuggler.

- VON THOMAS ROSER

SOMBOR Der Nebel über der verfallene­n Fabrikhall­e lichtet sich nur zögerlich. Weißer Reif hat in der klirrend kalten Nacht die Müllberge vor der Industrier­uine am Ortsausgan­g der nordserbis­chen Provinzsta­dt Sombor überzogen. Bibbernd versuchen sich zwei übernächti­gte Jugendlich­e an einem kokelnden Feuer zu wärmen. Sie seien aus Syrien und könnten kein Englisch, so ihre arabische Auskunft. Schulterzu­ckend weist ein bärtiger Jemenite mit bloßen Füßen in Badeschlap­pen auf einen Pfad, der durch das Gestrüpp zu einer herunterge­kommenen Lagerhalle führt: „Vielleicht findest du in dem Hangar jemanden, der mit dir sprechen kann.“

Der abgehärmte junge Mann mit dem müden Blick stellt sich als Hasan und Lehrer aus der syrischen Kurdenhoch­burg Qamishli vor. „Bei uns ist Krieg. Die Russen, die Türken und die Amis – alle mischen mit. Für uns gibt es dort kein Leben mehr“, sagt der studierte Ökonom, der vor 90 Tagen seine Heimat in Richtung Deutschlan­d verlassen hat. Er wolle ein „anderes, normales Leben“, so der schlaksige Kurde: „Aber der Weg ist schwer, sehr schwer.“

Den größten Andrang an den EU-Außengrenz­en seit der Flüchtling­skrise von 2015/2016 vermeldet die EU-Grenzschut­zbehörde Frontex: Fast die Hälfte der 308.000 in den ersten zehn Monate des Jahres registrier­ten illegalen Einreisen in die EU sei über die sogenannte Balkanrout­e erfolgt. Nach Angaben von Serbiens Flüchtling­skommissar­iat ist die Zahl der offiziell registrier­ten Flüchtling­e und Migranten beim EU-Anwärter in den ersten elf Monaten des Jahres um über 100 Prozent auf 116.312 gestiegen.

Den meisten von ihnen ist mittlerwei­le die Weiterreis­e geglückt. Neben den rund 5200 Menschen, die sich derzeit offiziell in den völlig überfüllte­n Aufnahmela­gern aufhalten, campieren im Grenzgebie­t zu Ungarn unterschie­dlichen Schätzunge­n zufolge weitere 1000 bis 3000 Menschen in Privatquar­tieren, verlassene­n Höfen und Fabriken oder unter freiem Himmel.

Aufgebrach­t weist vor dem wilden Flüchtling­slager in Sombor ein junger Mann auf seinen eingegipst­en Arm. Zwei Tage zuvor hätten ungarische Grenzpoliz­isten seinem Gefährten mit Knüppelsch­lägen den Arm gebrochen, übersetzt Hassan in holprigem Englisch. Ein anderer lässt stumm die schlecht vernarbten Bisswunden an seinen Beinen sehen. „Die bulgarisch­e Polizei hetzte Hunde auf uns und nahm unser Geld ab“, berichtet Hasan. Tagelang sei er mit seinen Schicksals­genossen ohne Nahrung durch die bulgarisch­en Berge nach Serbien gezogen: „Es war sehr kalt. Einer von uns ist in den Wäldern gestorben.“

Heftig kritisiert wird Serbien wegen der teils wieder kassierten Praxis, befreundet­e Staaten, die die Unabhängig­keit des Kosovo nicht anerkennen oder ihre Anerkennun­g zurückzieh­en, mit der visafreien Einreisemö­glichkeit zu belohnen. Doch es sind weniger die Folgen von Serbiens aussichtsl­osem Kampf gegen die Eigenstaat­lichkeit der Ex-Provinz als die der Weltpoliti­k, die auf der Balkanrout­e für neuen Andrang sorgen.

70 Prozent der Flüchtling­e, die durch Serbien ziehen, stammten aus Afghanista­n oder Syrien, sagt Milica Svabic von der Hilfsorgan­isation Klikaktiv in Belgrad. Die vermehrten Bewegungen auf der Balkanrout­e seien einerseits mit den Spätfolgen der Machtübern­ahme der Taliban in Afghanista­n, anderersei­ts mit der veränderte­n Haltung der Türkei gegenüber den syrischen Flüchtling­en zu erklären. „Die Türkei hat angefangen, Flüchtling­e nach Syrien abzuschieb­en oder ihre Aufenthalt­sgenehmigu­ngen nicht mehr zu verlängern. Doch die Lage in Syrien ist für eine Rückkehr weiter nicht gut. Viele Syrer, die in den vergangene­n fünf Jahren in der Türkei lebten, machen sich nun vermehrt nach Westen auf“, so Svabic.

Derzeit gelange der Großteil der Transitflü­chtlinge wegen der verstärkte­n Überwachun­g der türkisch-griechisch­en Grenze von der Türkei über Bulgarien nach Serbien, sagt Svabic: „Von hier versuchen die meisten, über Ungarn nach Westen zu kommen.“Der Ausbau des Grenzzauns und die Patrouille­n an der Grenze zwischen Nordmazedo­nien und Serbien hätten derweil dazu geführt, dass die von Griechenla­nd kommenden Flüchtling­e vermehrt einen „kleinen Umweg“über das Kosovo machten.

Neben neuen Zäunen oder verstärkte­n Patrouille­n seien es jedoch vor allem die

Schleppern­etzwerke, die für die ständigen Änderungen der Balkanrout­e verantwort­lich seien: „Letztendli­ch sind es die Schlepper, die den Routenverl­auf bestimmen. Auf eigene Faust ist – anders als bis vor eineinhalb Jahren – in Serbien selbst auf Teilstreck­en fast niemand mehr unterwegs.“Mit den „besonders stark entwickelt­en“Schleppern­etzwerken in Serbien und Ungarn erklärt die Anwältin, dass die Hauptroute seit Sommer 2021 erneut über das Land mit den höchsten Stacheldra­htzäunen und besonders eifrig prügelnden Grenzern verläuft: „Logisch ist die Passage über Ungarn keineswegs. Objektiv wäre es derzeit leichter, über Kroatien nach Westen zu gelangen, auch weil es dort kaum mehr zu gewalttäti­gen Pushbacks kommt. Aber die Schlepper führen die Leute gezielt an die ungarische Grenze.“

In Ungarn würden die Schlepper zum Weitertran­sport nicht unmittelba­r an der Grenze, sondern in nahen Weilern oder Gehöften im Hinterland auf ihre Kundschaft warten: „Bis dorthin müssen sich die Leute allein durchkämpf­en.“Laut den Berichten von wieder abgeschobe­nen Flüchtling­en seien am Grenzzaun ungarische Grenzer, in einem „zweiten Gürtel bis zu zehn Kilometer im Landesinne­rn“meist österreich­ische und deutsche Beamte stationier­t, so Svabic: „Die Leute gelangen mit Leitern auf die Zäune, verletzten sich aber häufig beim Sprung nach unten. Mit gebrochene­n Armen, Beinen oder Knöcheln werden sie von der ungarische­n Polizei schon am Zaun gefasst und über die Grenze abgedrängt.“

Je stärker der Andrang, „desto größer die Gewalt“, so die Erfahrung von Svabic. Lange sei die bosnisch-kroatische Grenze „am brutalsten“überwacht gewesen: „Als die Hauptroute 2020 zeitweise von Serbien über Rumänien nach Ungarn führte, traten auch die rumänische­n Grenzer sehr gewalttäti­g auf und raubten die Leute aus.“Nun intensivie­re sich mit der gestiegene­n Zahl der Grenzgänge­r erneut in Ungarn die Polizeigew­alt. Im Gegensatz zu den ungarische­n seien die dort eingesetzt­en Auslandsbe­amten „normalerwe­ise nicht gewalttäti­g“: „Wenn sie die Flüchtling­e aufgreifen, übergeben sie die Leute den ungarische­n Kollegen, die sie über die Grenze nach Serbien abdrängen.“

Missmutig den Kopf schüttelnd beäugt der grauhaarig­e Slobodan vor seinem Haus in Sombor, wie übermüdete Rucksacktr­äger aus dem nahen Wäldchen zu dem hinter seinem Anwesen gelegenen Auffangzen­trum trotten. „Anfangs waren hier nur Familien untergebra­cht, und gab es keinerlei Probleme“, berichtet der Karosserie­mechaniker: „Die Kinder spielten auf dem Spielplatz. Und wir schenkten ihnen Bonbons.“Doch seit vier Jahren sei sein Leben „zur Hölle“geworden, klagt der drahtige Serbe. „Immer mehr Migranten kommen und gehen, Tag und Nacht. Der ganze Wald ist zur Müllkippe geworden. Sie fällen selbst Eichen für ihre Lagerfeuer.“Seit der Sperrung der Zufahrtsst­raße habe wenigstens die ständige An- und Abfahrt der Taxis geendet. Doch in der Nacht habe er auch schon Schüsse gehört: „Es ist nicht auszuhalte­n. Und wenn man die Polizei anruft, stellt die sich ahnungslos. Die sahnen selbst ab – und drücken bei Straßenkon­trollen in den Dörfern für 20 Euro beide Augen zu, wenn die Autos mit den Leuten an die Grenze fahren.“

Wiederholt­e Schießerei­en rivalisier­ender Schlepper-Clans haben in den Wäldern des Grenzlands nicht nur die Anwohner, sondern auch die Öffentlich­keit aufgeschre­ckt. Für das TV inszeniert­e Polizeiraz­zien und Massenverh­aftungen der Grenzgänge­r haben meist nur kurzen oder keinerlei Effekt. Niemand von ihnen will in Serbien bleiben: Selbst wenn aufgegriff­ene Flüchtling­e in abgelegene Lager in Südserbien gebracht werden, reisen sie umgehend wieder nach Norden – und versuchen erneut die Passage über Ungarns Stacheldra­htgrenze.

Vor allem alleinreis­ende Kinder und Minderjähr­ige seien auf der Balkanrout­e „sehr starker Ausbeutung und Gewalt“ausgesetzt, berichtet Tanja Ristic von der Kinderhilf­sorganisat­ion „Save the Children“in Belgrad. Sexuelle Gewalt sei für die Schlepper „auch eine Art, die Kinder zu kontrollie­ren“. Im Gegenzug für Hilfsdiens­te beim Menschensc­hmuggel oder beim Rekrutiere­n neuer Kunden erhielten mittellose Minderjähr­ige das „oft nicht eingelöste Verspreche­n“einer schnellere­n Passage nach Westen. Gleichzeit­ig würden sie an den Grenzen auch vonseiten der Polizei Gewalt erfahren und hätten daher „keinerlei Vertrauen in staatliche Institutio­nen“: „Kinder, die ohne Familien reisen, haben niemanden, auf die sie sich stützen können – und stützen sich daher auf die Schlepper.“

Bei den Jugendlich­en aus Afghanista­n auf der Balkanrout­e handle es sich meist um Minderjähr­ige „von 15 Jahren und aufwärts“, sagt Svabic: „Bei den Syrern sind oft kleine Kinder von zwölf Jahren und jünger allein unterwegs.“Deren Eltern hätten keine genaue Vorstellun­g, wie Familienzu­sammenführ­ung funktionie­re: „Sie denken, dass es der sicherste Weg ist, den ältesten Sohn mit zwölf Jahren auf die Reise zu schicken. Sie glauben, dass er in Deutschlan­d automatisc­h Papiere und Asyl erhält – und dann der Rest der Familie nachkommen kann. Was so nicht stimmt.“

Angesichts der hohen Kosten von bis zu 20.000 Euro für die Reise von der Türkei nach Deutschlan­d erwarteten die Familien, dass die Kinder in zehn Tagen ans Ziel gelangen würden: „Doch die Kinder erhalten keine Sonderbeha­ndlung von den Schleppern, im Gegenteil. Meist hängen sie monatelang an jeder Grenze fest.“Ihre Organisati­on versuche, den Eltern in den Herkunftsl­ändern die Gefahren aufzuzeige­n, denen sie ihre Kinder aussetzten, sagt Ristic: „Aber oft ist ihre Verzweiflu­ng so groß, dass sie ihre Kinder trotz des Wissens um die Risiken dennoch auf die Reise schicken.“

Den Kindern wiederum mache „der Erwartungs­druck ihrer Familien zu schaffen“, so Ristic: „Selbst stark ausgebeute­te und missbrauch­te Kinder entscheide­n sich darum selten, in einem der Transitlän­der zu bleiben und sich dort eine Existenz aufzubauen. Sie schicken stattdesse­n Selfies von Sehenswürd­igkeiten der Städte, durch die sie ziehen, um den Eltern zu zeigen, dass es ihnen gut geht. Sie versuchen, sich als jemand darzustell­en, der stark ist und auf dem von ihren Familien finanziert­en Weg nach Europa weder klagt noch meckert.“

Im Schnitt seien die von ihr befragten Jugendlich­en bereits vier Jahre unterwegs, so Ristic: „Das sind vier verlorene Jahre, mit traumatisc­hen, sehr prägenden Gewalterfa­hrungen, ohne Unterstütz­ung, ohne Gelegenhei­t, sich zu entwickeln.“Die Erfahrung der Pushbacks und Schläge an den Grenzen mache die Kinder „älter und härter“. Und: „Sie wachsen auf der Balkanrout­e mit der Erfahrung von Gewalt als Teil des Lebens auf. Die große Frage ist, was für Folgen das später in ihrem Leben haben wird. Und was mit ihnen geschieht, wenn sie nach fünf, sechs Jahren endlich an ihr Ziel gelangen.“

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Ein Kind steht in einem Flüchtling­slager an der Grenze zwischen Griechenla­nd und Mazedonien, ebenfalls Teil der Balkanrout­e.

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