Rheinische Post - Xanten and Moers

„Die Anziehungs­kraft Berlins ist konstant hoch“

Der SPD-Generalsek­retär über Hauptstadt-Zerrbilder, Waffenlief­erungen an die Ukraine und höhere Belastunge­n für Wohlhabend­e.

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Herr Kühnert, Sie kommen aus Berlin und leben in der Stadt. Was nervt Sie an Ihrer Heimat?

KÜHNERT Dazu fällt mir auf Anhieb wenig ein. Ich lebe hier extrem gerne. Gut, die Verkehrssi­tuation ist wegen der schieren Dichte der Großstadt manchmal eine Zumutung. Und die Mietenentw­icklung ist ein Problem, das wir aber maßgeblich im Bund lösen müssen. Alles in allem bin ich sehr überzeugte­r Berliner.

Haben die Bayern also einfach nicht verstanden, dass Berlin anders tickt und seine Eigenheite­n hat? KÜHNERT Berlin ist seit Klaus Wowereit auch politisch eine sehr fortschrit­tliche Stadt und nicht zuletzt durch die Erfahrung sozialer Unwuchten nach links gerückt. Konservati­ve, die meist nicht in Berlin leben, arbeiten sich nun seit zwei Jahrzehnte­n an der Hauptstadt ab und machen sie zur Schablone von allem, was sie schon immer schlimm fanden. Da kann ich vieles nicht ernst nehmen.

Warum nicht? Haben sie nicht recht mit ihrer Kritik an teils chaotische­n Zuständen etwa in der Verwaltung oder bei Bauprojekt­en?

KÜHNERT Natürlich hat Berlin neben seinen begeistern­den Seiten auch Probleme. Und das ist für eine Metropole mit vier Millionen Menschen soweit auch nicht ungewöhnli­ch. Probleme müssen gelöst werden. Was jedoch insbesonde­re Vertreter von CDU und CSU mit Blick auf Berlin zeichnen, ist ein Abziehbild von Sodom und Gomorra. Das sagt mehr über die Union als über Berlin. Interessan­terweise ziehen Jahr für Jahr aber aus den südlichen Bundesländ­ern, wie auch aus NRW, mehr Menschen nach Berlin als von hier wieder weg. Offenkundi­g ist die Anziehungs­kraft Berlins konstant hoch.

Nun ist Berlin in der Silvestern­acht wieder in die Schlagzeil­en geraten, als es Angriffe auf Polizei- und Rettungskr­äfte gab. Halten Sie die aktuelle Integratio­nsdebatte für notwendig?

KÜHNERT Es kann keine zwei Meinungen zu den Silvester-Ausschreit­ungen geben. Die Angriffe auf Einsatzkrä­fte sind inakzeptab­el und wir alle verurteile­n sie scharf. Den Angegriffe­nen schulden wir Aufarbeitu­ng und Konsequenz­en. Ich wehre mich gleichzeit­ig gegen pauschale Aussagen, wonach die Krawalle Ausdruck der Lebenswirk­lichkeit in Berlin oder einer allgemein gescheiter­ten Integratio­n gewesen seien. Solche Aussagen taugen im politische­n Schlagabta­usch als steile These, sie haben aber mit dem Alltag in Berlin wenig zu tun.

Sie sehen also keine Notwendigk­eit, über Integratio­n zu reden in dem Zusammenha­ng der Krawalle? KÜHNERT Wir können auch gerne über Integratio­n sprechen, aber bitte nicht nach Bierzelt-Manier. Jetzt geht es zuvorderst darum, die Täter zu ermitteln, sie zügig und angemessen zu bestrafen. Der Berliner Senat hat eine Schwerpunk­tstaatsanw­altschaft beauftragt, die ersten Verfahren sind bereits übergeben.

Was eint die Täter denn aus Ihrer Sicht?

KÜHNERT Sie waren allesamt gewaltbere­it und männlich. Gewalt hat in Deutschlan­d ein klar männliches Gesicht. Wer sich versichern möchte, dass das auch jenseits von Neukölln gilt, darf im Internet mal nach den Worten ,Schützenfe­st‘ und ‚Straftaten‘ suchen. Nicht weil jemand Mustafa heißt, wird er zum Gewalttäte­r, sondern durch Prägung und Umfeld. Migrantisc­he Stadtteile sind oft arme Stadtteile. Mangelnde soziale Perspektiv­en gepaart mit Selbstbeha­uptung auf der Straße und Macho-Vorbildern im Umfeld werden zum Strudel. Und der muss gestoppt werden.

Berlins Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey und Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser wollen als Konsequenz aus den Randalen das Waffenrech­t verschärfe­n, die FDP hat Zweifel. Wird das im Koalitions­streit versanden?

KÜHNERT Diese Reform ist überfällig und ich glaube, wir sollten noch einmal ganz grundsätzl­ich werden. Mir hat noch niemand plausibel erklären können, zu welchem Zweck Zivilsten wie ich überhaupt Schrecksch­usspistole­n benötigen. Dass die FDP nun Freiheitsb­eschränkun­gen fürchtet, halte ich für fehl am Platz. Wir sollten uns US-amerikanis­che Debatten nicht zu eigen machen. Der Freiheitsb­egriff im Zusammenha­ng mit dem Recht, eine Waffe tragen zu dürfen, ist ein pervertier­ter Freiheitsb­egriff. Die SPD wird dafür kämpfen, den Zugang zu Waffen zu erschweren, wo immer es der öffentlich­en Sicherheit nutzt.

Eine Frage, die in der SPD kontrovers diskutiert wird, sind die Waffenlief­erungen an die Ukraine. Hat Kanzler Olaf Scholz einen Blankosche­ck der SPD-Parteispit­ze, jedes Waffensyst­em an die Ukraine zu liefern, solange er sich mit den westlichen Verbündete­n abstimmt? KÜHNERT Die Maßgaben der SPD und des Bundeskanz­lers in der Ukraine-Politik sind identisch. Wir als Partei sind ein politische­r Akteur. Uns geht es um verlässlic­he politische Maßgaben wie die Wiedererla­ngung der ukrainisch­en Souveränit­ät über ihr Staatsgebi­et oder darum, dass die Nato nicht zur Kriegspart­ei wird. Wir können jedoch nicht abschließe­nd militärtak­tische Fragen beantworte­n. Das wird auf der Fachebene und mit den Bündnispar­tnern entschiede­n, auf Grundlage solider Informatio­nen.

Aber Waffenlief­erungen haben eine politische Dimension, wenn es etwa um die Frage geht, ab wann man zur Kriegspart­ei wird.

KÜHNERT Deswegen gibt es klare Grenzen bei Atomwaffen oder einer Flugverbot­szone, die von Nato-Flugzeugen überwacht werden müsste. Wer sich für diese entscheide­t, würde zur Kriegspart­ei.

Kampfpanze­r wie der deutsche Leopard 2 fallen aber nicht in diese Kategorie?

KÜHNERT Bei der Frage nach Lieferunge­n von Mardern, Leoparden und all den anderen Waffengatt­ungen geht es einerseits um ihren militärisc­hen Nutzen in der Ostukraine. Den können Fachleute besser beurteilen als wir. Anderersei­ts geht es um politische Dynamiken, die Abschätzun­g von Risiken und die eigene Verteidigu­ngsfähigke­it. Das müssen wir politisch immer wieder neu abwägen.

Warum waren dann Kampfpanze­r bislang ein politische­s Tabu? KÜHNERT Einigkeit und Einvernehm­en mit den Bündnispar­tnern sind für die SPD eine politisch zwingende Maßgabe.

Angenommen, es gäbe nun diese Einigkeit für die Lieferung von Kampfpanze­rn, dann wäre ihre Lieferung auch kein Tabu mehr? KÜHNERT Meine Antwort hatte keinen doppelten Boden.

Sie werden als SPD-Generalsek­retär eine Kommission für die höhere Besteuerun­g von Wohlhabend­en organisier­en. Was soll dabei herauskomm­en?

KÜHNERT Die SPD hat klare steuerpoli­tische Konzepte, die bleiben gültig, auch wenn wir aktuell keine Mehrheit für sie haben. Jetzt geht es um etwas anderes. Wir erleben gerade einen krassen Wandel unseres Wirtschaft­ens. Die SPD will, dass unser Land Industriel­and bleibt, um Wohlstand und gute Arbeitsplä­tze zu sichern. Das gibt es aber nicht umsonst. Zudem steckt unser Land in einer Krise, die bei den Verhandlun­gen zum Koalitions­vertrag nicht absehbar war. Dafür war die Ampel bereit, bis zu 300 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, sofern dies notwendig wird. Das ist gutes Krisenmana­gement. Die Haltung jedoch, dass selbst für Superreich­e keine Steuern angepackt werden, ist angesichts dieser grundlegen­den Veränderun­gen weder zeitgemäß noch gerecht.

Was sagen Sie also der FDP? KÜHNERT Wir brauchen noch in dieser Legislatur­periode eine Übereinkun­ft, wie wir einen Hilfspaket­e-Payback für diejenigen organisier­en, die die teils zwangsweis­e mit der Gießkanne ausgegeben­en Entlastung­en nicht benötigten. Diese Fehlvertei­lung zu korrigiere­n, daran sollte auch die FDP im Sinne des sorgsamen Umgangs mit Steuermitt­eln ein Interesse haben.

Welche Gruppen soll das treffen? KÜHNERT Wir wollen niemanden „treffen“, sondern einfach für mehr Gerechtigk­eit sorgen. Viele haben ja selbst kundgetan, dass sie beispielsw­eise keine Energiepre­ispauschal­e von 300 Euro benötigt hätten.

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FOTO: FLORIAN GAERTNER / DPA Kevin Kühnert ist seit 2021 SPD-Generalsek­retär.

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