Rheinische Post - Xanten and Moers
„Ich verstehe die Ungeduld der jungen Leute“
Der Klimaforscher spricht über den Protest der Aktivisten und die Folgen des Kohleabbaus unter Lützerath für das Weltklima.
Herr Latif, die Aktivisten vor Ort beklagen die Räumung von Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier als „Klimaverbrechen“. Was würde ein Verzicht des Kohleabbaus unter dem Dorf für das Weltklima wirklich bringen?
LATIF Lassen Sie mich das ganze Thema insgesamt einordnen. Die Diskussion um Lützerath läuft derzeit ohne großen wissenschaftlichen Hintergrund. Richtig ist: Die Verbrennung der Kohle unter Lützerath ist völlig irrelevant für das Weltklima. Ein Verzicht auf den Abbau würde uns dem 1,5-Grad-Ziel für die maximale Erderwärmung keinen Schritt näherbringen. Das können nur alle Länder zusammen. Die Plakate der Demonstranten sind da irreführend.
Ist der Widerstand in Lützerath aus wissenschaftlicher Sicht also unsinnig?
LATIF Ganz und gar nicht. Deutschland hat eine historische Verantwortung. Denn bei der Emission von Kohlendioxid in der Vergangenheit, und die ist für die laufende Erwärmung ursächlich, liegt unser Land weltweit auf Platz fünf. Das ist weit mehr als die aktuellen deutschen Emissionen, die mit einem Weltanteil von zwei Prozent tatsächlich nicht entscheidend sind. Zudem führen wir einen verschwenderischen Lebensstil. Deutschland hat also die Pflicht, beim Klimaschutz voranzugehen.
Was sollte unser Land tun?
LATIF Es muss an vielen Stellen Kohlendioxid eingespart werden. So gab es gerade einen Verkehrsgipfel im Kanzleramt – ohne Ergebnisse. Hier ist viel zu tun, denn gerade der Straßenverkehr leistet bisher gar nichts zur Senkung der Treibhausgase. Natürlich wäre auch Lützerath ein kleiner Beitrag. Aber hier geht es auch um Energiesicherheit. Am besten wäre es, die Beteiligten würden sich noch einmal an einen Tisch setzen und über die veränderte Lage diskutieren. Wenn es dann beim Aus für Lützerath bleibt, wäre das in Ordnung. Aber Gespräche zwischen beiden Seiten würden die Lage zunächst entspannen. Der Energiekonzern RWE braucht derzeit die Braunkohle doch gar nicht.
Hätte Deutschland aus der Braunkohle schneller aussteigen müssen?
LATIF Aus klimapolitischer Sicht wäre ein früherer Ausstieg sicherlich angebracht gewesen. Aber es gibt noch andere Aspekte wie Strukturwandel und den Erhalt der
Arbeitsplätze. Deshalb haben auch viele gesellschaftliche Gruppen den Kohlekompromiss mitgetragen. Trotzdem stimme ich mit den jungen Menschen überein, dass wir unsere selbst gesteckten KlimaschutzZiele mit diesem Tempo auf keinen Fall erreichen. Wir müssen die positiven Aspekte von Klimaschutz hervorheben. Die günstige erneuerbare Energie etwa in Ostdeutschland ist ein Standortvorteil, sodass sich große Industrieunternehmen dort angesiedelt haben. Wir sollten den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen, damit der endgültige Ausstieg aus der Braunkohle deutlich vor 2038 erfolgen kann, wie es auch im Kohlekompromiss vorgesehen ist.
Wie weit sind wir von den Kipppunkten entfernt, die Aktivisten gerne als Argument für eine radikalere Klimapolitik anführen?
LATIF Darauf kann Ihnen derzeit niemand eine seriöse Antwort geben. Bei Klimaveränderungen handelt es sich um komplexe Phänomene, die im Grunde zum Teil unberechenbar bleiben. Es sollte stets das Vorsorgeprinzip gelten. Nehmen Sie ein Auto, das mit Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn im Nebel unterwegs ist. Der Fahrer weiß nicht, ob ein Stauende naht. Also runter vom Gas.
Für die Aktivisten in Lützerath gibt es nur eine Antwort auf die komplexen Fragen: Sofort raus aus der Braunkohle. Ist da was dran?
LATIF Das ist einseitig. Und fehlende Kompromissbereitschaft spaltet die Gesellschaft, siehe Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Ich verstehe die Ungeduld der jungen Leute. Aber man muss zuerst die Bevölkerung von der Notwendigkeit schärferer Klimamaßnahmen überzeugen. Am besten wäre es, sie würden von den Änderungen profitieren.
Wie soll das gehen, wenn durch Klimasteuern und Verzicht auf billige Energie alles noch teurer als bisher wird?
LATIF Fossile Energie ist nur billig, weil sie subventioniert wird. Alle Subventionen für nicht nachhaltige Produkte müssen fallen. Das schafft finanzielle Spielräume. Nehmen Sie das Neun-Euro-Ticket. Es war eine grandiose Idee, die Menschen für den öffentlichen Nahverkehr zu begeistern. Selbstverständlich müssen die öffentlichen Verkehrsmittel zuverlässig und komfortabel sein, dann steigen die Leute von alleine um.
Was würden Sie den Klimaaktivisten in Lützerath empfehlen?
LATIF Tut alles, dass sich mehr Menschen für den Klimaschutz engagieren. Eine kleine Gruppe mit Aktionen wie in Lützerath wird das nicht schaffen. Wir müssen darüber diskutieren, wie man einen Klimaschutz hinbekommt, bei dem wir große Teile der Bevölkerung hinter uns bringen. Die zentrale Frage lautet: Wie bekommen wir die Bereiche Umwelt, Wirtschaft und Soziales unter einen Hut?