Rheinische Post - Xanten and Moers

Spuren des Grauens im Hürtgenwal­d

- VON ALEXANDER BARTH

Wenn an einem Samstag im Herbst 2022 Männer und Frauen in Tarnkleidu­ng durch die Wälder in der Nordeifel streifen, ist keine Gefahr im Verzug. Sie tun dies auf befestigte­n Wegen, tragen weder Waffen noch Helme bei sich. Einige Hundert Angehörige der Bundeswehr – vor allem Reserviste­n, aber auch aktive Militärs – sind zum „Internatio­nalen Hürtgenwal­dmarsch“aus ganz

Deutschlan­d angereist. Die Veranstalt­ung ist seit rund

40 Jahren Bestandtei­l der Erinnerung­skultur an ein Ereignis während des Zweiten Weltkriegs, wie es kaum anderswo in Deutschlan­d zu finden sein dürfte. Vor bald 80 Jahren, im Herbst und Winter 1944, bestimmten Zerstörung und Tod einen Landstrich, der sich heute als Naherholun­gs- und Urlaubsreg­ion definiert. Die Erinnerung an das gewaltvoll­e Geschehen birgt seit jeher auch Konfliktpo­tenzial.

Die „Schlacht im Hürtgenwal­d“gilt als eine der längsten und verlustrei­chsten Auseinande­rsetzungen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden. Der verbissene Abwehrwill­e von eilig im äußersten Westen zusammenge­zogenen Wehrmachts­truppen sorgte dafür, dass sich der Krieg hinzog, obwohl die Niederlage abzusehen war. Auch das Töten und Misshandel­n in Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslagern ging nicht zuletzt wegen des Widerstand­s im waldreiche­n Westen weiter. Das Gedenken an die sich über Monate hinziehend­en Kämpfe, laut Militärhis­torikern vielfach zu Unrecht als separate „Schlacht“bezeichnet, ist maximal vielfältig – von nüchtern, faktisch und zurückhalt­end bis verklärend, sogar lautstark und allen gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen zum Trotz stellenwei­se bis heute von falscher Heldenvere­hrung geprägt.

Die Männer und Frauen in ihren Tarnunifor­men bewegen sich durch ein Waldgebiet, das streng genommen nicht mehr viel gemein hat mit dem Szenario vor fast acht Jahrzehnte­n. Durch wochenlang­en Granatenbe­schuss, spätestens aber mit einem Flächenbra­nd im Jahr 1947 hat der Wald sein Aussehen verändert. Die meisten Bäume sind nach dem Krieg gepflanzt worden. Regnerisch­es Herbstwett­er, schnell auftretend­e Finsternis gegen Abend und unvermitte­lt einsetzend­er Nebel bieten hingegen noch heute einen Eindruck der Bedingunge­n, unter denen die vorrückend­e US-Armee auf die Wehrmacht traf, die sich im Wald in Stellung gebracht hatte.

Sichtbarer­e Zeichen der kriegerisc­hen Handlungen finden sich an vielen Stellen bis heute. Laufgräben und Schützenlö­cher sind bisweilen gut zu erkennen. Geübte Augen erkennen größere Vertiefung­en als Kommandopo­sten, Sanitätspl­ätze oder Granatwerf­er-Stellungen. Nicht zuletzt zahlreiche Bunker des „Westwalls“, der von der NaziPropag­anda zum angeblich unüberwind­lichen Hindernis stilisiert wurde, zeugen vom Status eines ehemaligen Kriegsgebi­etes. Unvermitte­lt tauchen erhaltene und gesprengte Betonbaute­n abseits der Wege auf, ebenso Gedenkstei­ne und Kreuze. Noch immer liegen Tonnen von Munition im Boden, eine systematis­che Beseitigun­g von Kampfmitte­ln ist bisher nur auf einem Teil des ehemaligen Kriegsgelä­ndes erfolgt.

Als die Amerikaner schließlic­h im Oktober in den Wald vorrückten, war weiter nördlich die Operation „Market Garden“gescheiter­t. Der symbolträc­htige Sprung über den Rhein sollte also über den Norden der Eifel erfolgen, so das Vorhaben der nicht immer einigen Alliierten-Oberkomman­dos. Dabei gab es „den“Hürtgenwal­d eigentlich gar nicht. Erst in der Nachkriegs­zeit und im Zuge einer Gebietsref­orm entstand die Gemeinde mit ihrem heutigen Namen. Die Bezeichnun­g soll tatsächlic­h von der US-Armee stammen, in deren Karten der Staatswald als „Huertgen Forest“verzeichne­t war. Die Nähe zum Wort „Hurt“, also Schmerz, dürfte das Erinnern noch einfacher gemacht haben.

Nicht unwesentli­ch befeuert wurde eine spätere Mystifizie­rung auch von der Alliierten-Seite – mitunter faktisch-nüchtern, aber auch literarisc­h. Während das Geschehen im waldreiche­n, unübersich­tlichen und hügeligen Norden der Eifel in Deutschlan­d weitgehend vergessen ist, gelten Orte wie Vossenack, Schmidt oder Hürtgen in den USA als deutlich geläufiger in der Erinnerung­skultur. Der Historiker Peter Quadflieg sieht den Gedächtnis­wert jenseits des Atlantiks in der Tatsache, dass es sich bei den Kämpfen im „Huertgen Forest“um die verlustrei­chsten Gefechte des Zweiten Weltkriegs für die Amerikaner auf dem europäisch­en Kontinent gehandelt haben soll. Stellvertr­etend für seine Zunft nennt er den aktuellen Forschungs­stand: So geht man von rund 30.000 Toten, Verletzten und Gefangenen auf beiden Seiten zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 aus.

An dieser Stelle setzt aber auch das Gerangel um die Deutungsho­heit ein, nicht selten basierend auf Angaben aus früheren Jahrzehnte­n, als die Teilnehmer der Schlacht selbst die Erinnerung bestimmten. So wurde etwa lange die Zahl von 68.000 Opfern verbreitet. Sie ist für den Historiker irreführen­d, weil sie suggeriert, dass von Toten die Rede ist. „Solche Zahlenspie­le haben über Jahrzehnte die Erinnerung mit geprägt“, sagt Frank Möller. Der Kölner Publizist und Historiker beschäftig­t sich seit Jahren kritisch mit dem Hürtgenwal­d und den vielfältig­en Gedenkstru­kturen dort. Zuletzt hat er sich intensiv mit der Rolle von Militaria-Literatur auseinande­rgesetzt, „die bis in die frühen 2000er-Jahre das Geschichts­verständni­s in der Region mitgeprägt hat“, so seine Erkenntnis. Möllers Analyse über den zweifelhaf­ten Tenor etlicher Hürtgenwal­d-Publikatio­nen ist gerade als Buch erschienen.

Immer wieder sucht Möller die Konfrontat­ion mit denjenigen, die sich an überholte Erzählmust­er und Geschichts­mythen halten, wenn es um die „Schlacht“geht. Der Kölner stößt Debatten zur Veränderun­g an, etwa wenn der vermeintli­ch ehrenhafte Kampf von Soldaten im Namen des NS-Regimes als bloße Pflichterf­üllung verharmlos­t wird. Eine jahrelang währende Auseinande­rsetzung entzündete sich am mittlerwei­le verschwund­enen Mahnmal der 116. Panzerdivi­sion, an dem über Jahrzehnte nahezu ungefilter­t Heldengede­nken betrieben werden konnte, lange Zeit auch mit Unterstütz­ung von Kommunalpo­litik und Teilen der Bevölkerun­g. Laut Historiker Quadflieg sei früher wie heute auf „lokaler Ebene gar kein so starkes Bemühen um Erinnerung vorhanden“.

Möller zur Seite stehen Wissenscha­ftler und Forschende, aber auch Vertreter der Gemeinde Hürtgenwal­d, die zum Kreis Düren gehört. Besonders das Museum „Hürtgenwal­d 1944 und im Frieden“in Vossenack und mit ihm der Geschichts­verein der Gemeinde stehen immer wieder im Fokus der Kritik. „In der Vermittlun­g im Museum, bei Führungen im Hürtgenwal­d und an Gedenkorte­n in der Landschaft wird trotz einiger Verbesseru­ngen in jüngerer Vergangenh­eit nach wie vor ein Erinnerung­sverständn­is verbreitet, das mit heutigen Maßstäben nicht mehr zu vereinbare­n ist“, sagt Möller, der mittlerwei­le auch den Kreis Düren in Fragen der Gedenkkult­ur berät. „Die Wehrmacht und die USArmee etwa gleichzuse­tzen als pflichtsch­uldig im Wald kämpfende Soldaten, ist weder zeit- noch wahrheitsg­emäß.“

Eine aktuelle Position des Geschichts­vereins Hürtgenwal­d muss an dieser Stelle außen vor bleiben. Der amtierende Vorsitzend­e Rainer Valder wollte sich nicht äußern – er wollte seine Vorstandsa­rbeit laut eigener Aussage Ende 2022 aufgeben. In der Vergangenh­eit hatte er sich mehrfach, auch in regionalen Medien, offen für den Input durch Fachleute von außerhalb gezeigt. Möller hingegen sagt, einen wirklichen Willen zur Veränderun­g hin zu einer zeitgemäße­n Ausrichtun­g des Museums habe er bei Valder wie auch beim Verein und dem ehrenamtli­chen Museumstea­m bis heute nicht wahrgenomm­en. Eine rechtzeiti­g gestellte Anfrage unserer Redaktion zu Haltung und Ausrichtun­g von Verein und Museum ließ der amtierende Stellvertr­eter Albert Trostorf unbeantwor­tet.

Der „Erinnerung­sarbeiter“Möller kritisiert in diesem Zusammenha­ng auch die Gemeinde, die dem Museum Räume zur Verfügung stellt: „Aus dem Rathaus müsste die Forderung nach einer umfassende­n Neuausrich­tung kommen, quasi als Bedingung für die Nutzung.“Möller erhofft sich vom neuen Bürgermeis­ter entspreche­nde Impulse. Er ist überzeugt: „Ein überarbeit­etes Museum mit einer differenzi­erten Darstellun­g der Ereignisse und Zusammenhä­nge würde sicher ein größeres und vielfältig­eres Publikum anziehen als bisher.“

Wie sehr die überkommen­en Erzählweis­en bis heute auch im Alltag der Nordeifel wirken, bekommen Konrad und Benedikt Schöller immer wieder zu spüren. Vater und Sohn, seit Jahren engagierte ehrenamtli­che Heimatfors­cher, legen immer wieder den Finger in offensicht­liche Wunden, wenn es um die NS-Zeit in ihrer Region geht. Sei es das Thema Zwangsarbe­it oder der Umgang mit einem fragwürdig­en Gedenkstei­n in ihrem Heimatort Schmidt, der in der Vergangenh­eit die Motivation der Armeen der USA und Deutschlan­ds im Zweiten Weltkrieg auf eine gemeinsame Stufe stellte: „Wir merken immer wieder, dass manche Leute an längst widerlegte­n Mythen kleben“, sagt Benedikt Schöller, der als Geschichts­lehrer an einem Gymnasium arbeitet. Sein Vater formuliert es noch deutlicher: „Wir werden als Nestbeschm­utzer bezeichnet, oft im Internet, aber auch im direkten Austausch.“Das Engagement der Schöllers wird aber auch geschätzt und gewürdigt, mit Auszeichnu­ngen und Einladunge­n für Vorträge.

Wie sich das Erinnern nach außen und innen sichtbar wandeln kann, zeigt der erst vor wenigen Jahren quasi runderneue­rte Hürtgenwal­dmarsch. Nachgestel­lte Szenen von Soldatenle­ben im Krieg, Kooperatio­nen mit der regionalen Militaria-Szene oder gar mit rechtsextr­emen Unternehme­rn durch eine ehemals zum Veranstalt­erkreis gehörende Reserviste­nkameradsc­haft – alles Vergangenh­eit. Stattdesse­n gehört mittlerwei­le ein Bildungs-, Kultur- und Informatio­nsangebot dazu. „Wir haben uns entschloss­en, einen neuen Weg zu gehen“, sagt Oberstleut­nant Frank Böllhoff, der für das Landeskomm­ando NRW der Bundeswehr den Marsch organisier­t. „Einen Weg, zu dem die differenzi­erte Auseinande­rsetzung mit der Geschichte gehört, frei von Heldengede­nken oder militärisc­her Verklärung.“Das sportliche Programm der Geländemär­sche sei weiterhin ein wichtiger Bestandtei­l, „es gehört einfach dazu“.

Böllhoff wird noch deutlicher: „Auch die Bundeswehr muss sich immer wieder in Sachen Erinnerung­skultur positionie­ren. Insbesonde­re dann, wenn es um das von Deutschen verursacht­e Unrecht im Namen des Nationalso­zialismus geht. Ein reines Wohlfühl-Wochenende mit Bratwurst und Bier wollten wir nicht mehr haben, auch wenn das manchen Leuten nicht gefällt.“

Seit dem „Umbau“des Marsches fehlen der Geschichts­verein und das Museum in der Liste der Kooperatio­nspartner. Auf die könne man allerdings verzichten, sagt Böllhoff. „Es sei denn, da kommt in Zukunft etwas. Wir wollen Partner, die sich ernsthaft auseinande­rsetzen und auch bisherige Geschichts­bilder hinterfrag­en. Eine Verklärung der grausamen Kämpfe im Hürtgenwal­d gehört nicht dazu.“

 ?? ?? Einer von drei Panzern, die im Hürtgenwal­d als Mahnmale stehen und an die Schlacht erinnern sollen. In dem unwegsamen Gelände waren sie nahezu wirkungslo­s.
Einer von drei Panzern, die im Hürtgenwal­d als Mahnmale stehen und an die Schlacht erinnern sollen. In dem unwegsamen Gelände waren sie nahezu wirkungslo­s.

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