Rheinische Post - Xanten and Moers
Spuren des Grauens im Hürtgenwald
Wenn an einem Samstag im Herbst 2022 Männer und Frauen in Tarnkleidung durch die Wälder in der Nordeifel streifen, ist keine Gefahr im Verzug. Sie tun dies auf befestigten Wegen, tragen weder Waffen noch Helme bei sich. Einige Hundert Angehörige der Bundeswehr – vor allem Reservisten, aber auch aktive Militärs – sind zum „Internationalen Hürtgenwaldmarsch“aus ganz
Deutschland angereist. Die Veranstaltung ist seit rund
40 Jahren Bestandteil der Erinnerungskultur an ein Ereignis während des Zweiten Weltkriegs, wie es kaum anderswo in Deutschland zu finden sein dürfte. Vor bald 80 Jahren, im Herbst und Winter 1944, bestimmten Zerstörung und Tod einen Landstrich, der sich heute als Naherholungs- und Urlaubsregion definiert. Die Erinnerung an das gewaltvolle Geschehen birgt seit jeher auch Konfliktpotenzial.
Die „Schlacht im Hürtgenwald“gilt als eine der längsten und verlustreichsten Auseinandersetzungen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden. Der verbissene Abwehrwille von eilig im äußersten Westen zusammengezogenen Wehrmachtstruppen sorgte dafür, dass sich der Krieg hinzog, obwohl die Niederlage abzusehen war. Auch das Töten und Misshandeln in Konzentrations- und Vernichtungslagern ging nicht zuletzt wegen des Widerstands im waldreichen Westen weiter. Das Gedenken an die sich über Monate hinziehenden Kämpfe, laut Militärhistorikern vielfach zu Unrecht als separate „Schlacht“bezeichnet, ist maximal vielfältig – von nüchtern, faktisch und zurückhaltend bis verklärend, sogar lautstark und allen gesellschaftlichen Entwicklungen zum Trotz stellenweise bis heute von falscher Heldenverehrung geprägt.
Die Männer und Frauen in ihren Tarnuniformen bewegen sich durch ein Waldgebiet, das streng genommen nicht mehr viel gemein hat mit dem Szenario vor fast acht Jahrzehnten. Durch wochenlangen Granatenbeschuss, spätestens aber mit einem Flächenbrand im Jahr 1947 hat der Wald sein Aussehen verändert. Die meisten Bäume sind nach dem Krieg gepflanzt worden. Regnerisches Herbstwetter, schnell auftretende Finsternis gegen Abend und unvermittelt einsetzender Nebel bieten hingegen noch heute einen Eindruck der Bedingungen, unter denen die vorrückende US-Armee auf die Wehrmacht traf, die sich im Wald in Stellung gebracht hatte.
Sichtbarere Zeichen der kriegerischen Handlungen finden sich an vielen Stellen bis heute. Laufgräben und Schützenlöcher sind bisweilen gut zu erkennen. Geübte Augen erkennen größere Vertiefungen als Kommandoposten, Sanitätsplätze oder Granatwerfer-Stellungen. Nicht zuletzt zahlreiche Bunker des „Westwalls“, der von der NaziPropaganda zum angeblich unüberwindlichen Hindernis stilisiert wurde, zeugen vom Status eines ehemaligen Kriegsgebietes. Unvermittelt tauchen erhaltene und gesprengte Betonbauten abseits der Wege auf, ebenso Gedenksteine und Kreuze. Noch immer liegen Tonnen von Munition im Boden, eine systematische Beseitigung von Kampfmitteln ist bisher nur auf einem Teil des ehemaligen Kriegsgeländes erfolgt.
Als die Amerikaner schließlich im Oktober in den Wald vorrückten, war weiter nördlich die Operation „Market Garden“gescheitert. Der symbolträchtige Sprung über den Rhein sollte also über den Norden der Eifel erfolgen, so das Vorhaben der nicht immer einigen Alliierten-Oberkommandos. Dabei gab es „den“Hürtgenwald eigentlich gar nicht. Erst in der Nachkriegszeit und im Zuge einer Gebietsreform entstand die Gemeinde mit ihrem heutigen Namen. Die Bezeichnung soll tatsächlich von der US-Armee stammen, in deren Karten der Staatswald als „Huertgen Forest“verzeichnet war. Die Nähe zum Wort „Hurt“, also Schmerz, dürfte das Erinnern noch einfacher gemacht haben.
Nicht unwesentlich befeuert wurde eine spätere Mystifizierung auch von der Alliierten-Seite – mitunter faktisch-nüchtern, aber auch literarisch. Während das Geschehen im waldreichen, unübersichtlichen und hügeligen Norden der Eifel in Deutschland weitgehend vergessen ist, gelten Orte wie Vossenack, Schmidt oder Hürtgen in den USA als deutlich geläufiger in der Erinnerungskultur. Der Historiker Peter Quadflieg sieht den Gedächtniswert jenseits des Atlantiks in der Tatsache, dass es sich bei den Kämpfen im „Huertgen Forest“um die verlustreichsten Gefechte des Zweiten Weltkriegs für die Amerikaner auf dem europäischen Kontinent gehandelt haben soll. Stellvertretend für seine Zunft nennt er den aktuellen Forschungsstand: So geht man von rund 30.000 Toten, Verletzten und Gefangenen auf beiden Seiten zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 aus.
An dieser Stelle setzt aber auch das Gerangel um die Deutungshoheit ein, nicht selten basierend auf Angaben aus früheren Jahrzehnten, als die Teilnehmer der Schlacht selbst die Erinnerung bestimmten. So wurde etwa lange die Zahl von 68.000 Opfern verbreitet. Sie ist für den Historiker irreführend, weil sie suggeriert, dass von Toten die Rede ist. „Solche Zahlenspiele haben über Jahrzehnte die Erinnerung mit geprägt“, sagt Frank Möller. Der Kölner Publizist und Historiker beschäftigt sich seit Jahren kritisch mit dem Hürtgenwald und den vielfältigen Gedenkstrukturen dort. Zuletzt hat er sich intensiv mit der Rolle von Militaria-Literatur auseinandergesetzt, „die bis in die frühen 2000er-Jahre das Geschichtsverständnis in der Region mitgeprägt hat“, so seine Erkenntnis. Möllers Analyse über den zweifelhaften Tenor etlicher Hürtgenwald-Publikationen ist gerade als Buch erschienen.
Immer wieder sucht Möller die Konfrontation mit denjenigen, die sich an überholte Erzählmuster und Geschichtsmythen halten, wenn es um die „Schlacht“geht. Der Kölner stößt Debatten zur Veränderung an, etwa wenn der vermeintlich ehrenhafte Kampf von Soldaten im Namen des NS-Regimes als bloße Pflichterfüllung verharmlost wird. Eine jahrelang währende Auseinandersetzung entzündete sich am mittlerweile verschwundenen Mahnmal der 116. Panzerdivision, an dem über Jahrzehnte nahezu ungefiltert Heldengedenken betrieben werden konnte, lange Zeit auch mit Unterstützung von Kommunalpolitik und Teilen der Bevölkerung. Laut Historiker Quadflieg sei früher wie heute auf „lokaler Ebene gar kein so starkes Bemühen um Erinnerung vorhanden“.
Möller zur Seite stehen Wissenschaftler und Forschende, aber auch Vertreter der Gemeinde Hürtgenwald, die zum Kreis Düren gehört. Besonders das Museum „Hürtgenwald 1944 und im Frieden“in Vossenack und mit ihm der Geschichtsverein der Gemeinde stehen immer wieder im Fokus der Kritik. „In der Vermittlung im Museum, bei Führungen im Hürtgenwald und an Gedenkorten in der Landschaft wird trotz einiger Verbesserungen in jüngerer Vergangenheit nach wie vor ein Erinnerungsverständnis verbreitet, das mit heutigen Maßstäben nicht mehr zu vereinbaren ist“, sagt Möller, der mittlerweile auch den Kreis Düren in Fragen der Gedenkkultur berät. „Die Wehrmacht und die USArmee etwa gleichzusetzen als pflichtschuldig im Wald kämpfende Soldaten, ist weder zeit- noch wahrheitsgemäß.“
Eine aktuelle Position des Geschichtsvereins Hürtgenwald muss an dieser Stelle außen vor bleiben. Der amtierende Vorsitzende Rainer Valder wollte sich nicht äußern – er wollte seine Vorstandsarbeit laut eigener Aussage Ende 2022 aufgeben. In der Vergangenheit hatte er sich mehrfach, auch in regionalen Medien, offen für den Input durch Fachleute von außerhalb gezeigt. Möller hingegen sagt, einen wirklichen Willen zur Veränderung hin zu einer zeitgemäßen Ausrichtung des Museums habe er bei Valder wie auch beim Verein und dem ehrenamtlichen Museumsteam bis heute nicht wahrgenommen. Eine rechtzeitig gestellte Anfrage unserer Redaktion zu Haltung und Ausrichtung von Verein und Museum ließ der amtierende Stellvertreter Albert Trostorf unbeantwortet.
Der „Erinnerungsarbeiter“Möller kritisiert in diesem Zusammenhang auch die Gemeinde, die dem Museum Räume zur Verfügung stellt: „Aus dem Rathaus müsste die Forderung nach einer umfassenden Neuausrichtung kommen, quasi als Bedingung für die Nutzung.“Möller erhofft sich vom neuen Bürgermeister entsprechende Impulse. Er ist überzeugt: „Ein überarbeitetes Museum mit einer differenzierten Darstellung der Ereignisse und Zusammenhänge würde sicher ein größeres und vielfältigeres Publikum anziehen als bisher.“
Wie sehr die überkommenen Erzählweisen bis heute auch im Alltag der Nordeifel wirken, bekommen Konrad und Benedikt Schöller immer wieder zu spüren. Vater und Sohn, seit Jahren engagierte ehrenamtliche Heimatforscher, legen immer wieder den Finger in offensichtliche Wunden, wenn es um die NS-Zeit in ihrer Region geht. Sei es das Thema Zwangsarbeit oder der Umgang mit einem fragwürdigen Gedenkstein in ihrem Heimatort Schmidt, der in der Vergangenheit die Motivation der Armeen der USA und Deutschlands im Zweiten Weltkrieg auf eine gemeinsame Stufe stellte: „Wir merken immer wieder, dass manche Leute an längst widerlegten Mythen kleben“, sagt Benedikt Schöller, der als Geschichtslehrer an einem Gymnasium arbeitet. Sein Vater formuliert es noch deutlicher: „Wir werden als Nestbeschmutzer bezeichnet, oft im Internet, aber auch im direkten Austausch.“Das Engagement der Schöllers wird aber auch geschätzt und gewürdigt, mit Auszeichnungen und Einladungen für Vorträge.
Wie sich das Erinnern nach außen und innen sichtbar wandeln kann, zeigt der erst vor wenigen Jahren quasi runderneuerte Hürtgenwaldmarsch. Nachgestellte Szenen von Soldatenleben im Krieg, Kooperationen mit der regionalen Militaria-Szene oder gar mit rechtsextremen Unternehmern durch eine ehemals zum Veranstalterkreis gehörende Reservistenkameradschaft – alles Vergangenheit. Stattdessen gehört mittlerweile ein Bildungs-, Kultur- und Informationsangebot dazu. „Wir haben uns entschlossen, einen neuen Weg zu gehen“, sagt Oberstleutnant Frank Böllhoff, der für das Landeskommando NRW der Bundeswehr den Marsch organisiert. „Einen Weg, zu dem die differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte gehört, frei von Heldengedenken oder militärischer Verklärung.“Das sportliche Programm der Geländemärsche sei weiterhin ein wichtiger Bestandteil, „es gehört einfach dazu“.
Böllhoff wird noch deutlicher: „Auch die Bundeswehr muss sich immer wieder in Sachen Erinnerungskultur positionieren. Insbesondere dann, wenn es um das von Deutschen verursachte Unrecht im Namen des Nationalsozialismus geht. Ein reines Wohlfühl-Wochenende mit Bratwurst und Bier wollten wir nicht mehr haben, auch wenn das manchen Leuten nicht gefällt.“
Seit dem „Umbau“des Marsches fehlen der Geschichtsverein und das Museum in der Liste der Kooperationspartner. Auf die könne man allerdings verzichten, sagt Böllhoff. „Es sei denn, da kommt in Zukunft etwas. Wir wollen Partner, die sich ernsthaft auseinandersetzen und auch bisherige Geschichtsbilder hinterfragen. Eine Verklärung der grausamen Kämpfe im Hürtgenwald gehört nicht dazu.“