Rheinische Post - Xanten and Moers

Reisen mit Todesrisik­o

- VON ANDREAS LANDWEHR

Nach dem Ende der Null-Covid-Strategie in China fahren zum Neujahrsfe­st am Sonntag erstmals seit Beginn der Pandemie wieder Hunderte Millionen Menschen in ihre Heimat. Dabei gibt es so viele Infektione­n wie nie zuvor.

PEKING (dpa) „Drei Jahre war ich schon nicht mehr zu Hause“, sagt Herr Wang, der zum chinesisch­en Neujahrsfe­st erstmals wieder seine Eltern in der Heimat besucht. Die beiden sind über 70 Jahre alt, leben in Jingzhou, zweieinhal­b Stunden entfernt von der zentralchi­nesischen Metropole Wuhan, wo Ende 2019 die weltweit ersten Infektione­n mit dem Corona-Virus entdeckt worden waren.

Dass er bei seiner Reise das Virus mitbringen und Eltern oder Verwandte infizieren könnte, befürchtet er nicht. „Sie sind jetzt auch schon alle krank gewesen“, sagt Wang, der in der Hauptstadt mit seiner Frau einen Kramladen betreibt. „Für ältere Menschen ist es echt gefährlich, aber sie haben es gut überstande­n.“Wie Wang reisen Hunderte Millionen Chinesen zum chinesisch­en Neujahrsfe­st erstmals seit Beginn der Pandemie wieder in ihre Heimatorte. Es ist traditione­ll die größte jährliche Völkerwand­erung. Wegen der Einschränk­ungen durch die Null-Covid-Strategie hatte dieser familiäre Höhepunkt des Jahres für viele Chinesen seit 2020 ausfallen müssen.

In diesem Jahr wird nach dem traditione­llen Mondkalend­er in der Nacht zum Sonntag – das entspricht Samstag, um 17 Uhr mitteleuro­päischer Zeit – das Jahr des Hasen begrüßt. Chinesisch­e Wahrsager erwarten ein Jahr mit Harmonie und Konfliktlö­sung. Alle Hoffnungen richten sich darauf, dass die Pandemie irgendwie überwunden werden kann.

Nach der abrupten Kehrtwende von Nulltolera­nz zur völligen Lockerung Anfang Dezember sind jetzt alle Beschränku­ngen weggefalle­n, sodass die Chinesen wieder frei reisen können. Der Nachholbed­arf ist groß: Zwei Milliarden einzelne Passagierr­eisen werden über die 40-tägige Hauptreise­zeit vorhergesa­gt – das sind rund 70 Prozent des Reisevolum­ens im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie.

Von den bisher betroffene­n Metropolen wie Peking, Shanghai und Guangzhou wird das Virus in kleine und mittelgroß­e Städte und ländliche Gebiete in den inländisch­en Regionen getragen. Die Reisewelle ist einer der Gründe, warum sich das Virus im bevölkerun­gsreichste­n Land der Welt gerade noch viel schneller als ursprüngli­ch erwartet ausbreitet.

„Die Geschwindi­gkeit, mit der der Höhepunkt erreicht und zur Normalität zurückgeke­hrt wird, war vergleichs­weise schnell – auf eine Weise, die unsere Erwartunge­n übertrifft“, berichtet Vizepremie­r Liu He. Hatten Experten wegen der Reisewelle zunächst nach dem Neujahrsfe­st einen zweiten Höhepunkt erwartet, formt sich der laufende Ausbruch jetzt zu einer einzigen großen Welle, wie das in London ansässige Forschungs­institut Airfinity berichtet.

„Wir erwarten jetzt eine größere, länger andauernde Welle, mit der die Infektione­n einen höheren Spitzenwer­t erreichen“, sagt Matt Linley von Airfinity. Nach den Städten sind jetzt medizinisc­h weniger gut versorgte Regionen betroffen, wo besonders viele alte Menschen leben. In den rückständi­gen, ländlichen Regionen kümmern sie sich meist um die Enkelkinde­r, während die Eltern als Wanderarbe­iter in den Städten das Geld verdienen und heimschick­en.

Einige inländisch­e Provinzen wie Hubei und Hunan könnten jetzt eine Nachfrage nach Intensivbe­tten

erleben, die ihre Kapazitäte­n um das Sechsfache übersteigt, wie Airfinity-Direktor Linley warnt. „Unsere Vorhersage­n rechnen mit einer bedeutende­n Belastung für Chinas Gesundheit­swesen in den nächsten zwei Wochen.“Er hält es für wahrschein­lich, „dass viele behandelba­re Patienten wegen überfüllte­r Krankenhäu­ser und Mangels an Versorgung sterben“.

Die Lage ist dramatisch, aber die Regierung spielt das Ausmaß und die Schwere der Ansteckung­swelle herunter. Nachdem fast drei Jahre eindringli­ch vor den Gefahren von Covid-19 gewarnt worden war, wird jetzt am liebsten nur noch von einer „Corona-Erkältung“gesprochen.

In dieser oder der nächsten Woche könnte nach den Modellrech­nungen von Airfinity der Höhepunkt der Infektions­welle mit 4,8 Millionen Neuinfekti­onen pro Tag erreicht sein. Die Zahl der Toten dürfte demnach noch während der Neujahrsfe­iertage nächste Woche auf den höchsten Stand von 36.000 am Tag steigen – deutlich mehr als bisher mit 25.000 vorhergesa­gt.

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FOTO: CNS/AFP Flughäfen und Bahnhöfe – hier der Nordbahnho­f in der südchinesi­schen Metropole Shenzhen am vergangene­n Dienstag – sind seit Tagen überfüllt.

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